„Extremes Hungern kann tödlich sein“ – Sportarzt Volker Schöffl im Interview

Die Liste wird immer länger, immer mehr Kletterinnen und Kletterer sprechen öffentlich über ein großes Tabuthema im Klettersport: Essstörungen. Nuria Brockfeld, eine der erfolgreichsten deutschen Speedkletterinnen, trat deshalb Ende 2023 vom Leistungssport zurück. Die Österreicherin Hannah Schubert machte diesen Schritt wegen einer ausgeprägten Essstörung bereits 2022. Zuletzt waren es Martina Demmel und Sebastian Halenke, die ihren langen Leidensweg eindrücklich schilderten. „Essstörungen im Leistungsklettern sind traurige Realität“, sagt Volker Schöffl, Teamarzt des Bundeskaders. Der 59-jährige Bamberger warnt schon seit vielen Jahren, dass extremes Hungern nicht nur Folgeschäden hat, sondern tödlich sein kann.  Die International Federation of Sport Climbing (IFSC) unternehme aber nicht wirklich etwas. Im Gegenteil: Die BMI-Grenzwerte seien von der IFSC erst vor einigen Tagen noch einmal heruntergesetzt worden, berichtet Schöffl im Interview mit Kletterszene.com.

Herr Schöffl, mit Blick auf die internationalen Wettkämpfe, Weltcups oder im vergangenen Sommer die Olympischen Spiele: sind manche Athletinnen und Athleten nicht erschreckend dünn? Gehören die dorthin?

Ganz klar nein, die gehören ganz sicher nicht dorthin. Es gibt leider gerade beim Lead den Trend, immer dünner zu sein, um mit geringerem Gewicht leichter nach oben klettern zu können. Die Zahl offensichtlich mangel- und minderernährter Sportler steigt. Es gibt aber zwei Aspekte: Wenn eine Athletin oder ein Athlet sehr dünn ist – was ja sichtbar ist – kann es sich um eine Essstörung, also Magersucht, handeln. Es gibt aber auch welche, bei denen es zunächst optisch nicht erkennbar ist, die aber auch betroffen sind. Bei Bulimie beispielsweise oder Binge-Eating.

Klettern – Leistungsklettern – zählt zu den Sportarten, bei denen das Gewicht mitentscheidend ist. Hannah Schubert sagte vor Kurzem im „Spiegel“, sie kenne niemanden im Klettersport, der keine Probleme mit dem Essen gehabt habe oder nicht in Gefahr war, reinzurutschen. Weil das Thema Gewicht so präsent sei.

Das Thema ist auf alle Fälle omnipräsent. Und die Gefahr da reinzurutschen, gibt es für fast jeden. Dünn sein, nicht zu essen, um besser zu werden, ist erlaubtes Doping. Und an der Weltspitze wird an jedem Schräubchen gedreht, um noch besser zu werden und vorne mitmischen zu können.

Kurzfristig bringt Gewichtabnahme vielleicht Erfolg, aber langfristig macht der Körper das doch nicht mit?

Der Körper macht überraschend lange mit. Auch wenn er unterversorgt ist. Die Spätfolgen sind dann aber nicht mehr behandelbar – leider. Ich habe immer wieder 40 bis 50-jährige Kletterer, die Ermüdungsfrakturen haben. Extremes und langfristiges Hungern ist definitiv nicht der richtige Weg. Das kann tatsächlich bis zum Tod führen, statistisch ist das bei einer richtigen Anorexia nervosa bei etwa einem Drittel so. 

Wieso passiert dann nichts?

Also es nicht so, dass gar nichts passiert. Das ist vielleicht mit Blick von außen so. Die Medical Commission der IFSC hat sich schon seit 2007 mit diesem Thema beschäftigt.

Wir haben bei jeder Jahressitzung einen Maßnahmenkatalog vorgeschlagen, der aber von der IFSC nie umgesetzt wurde. Angeblich wegen rechtlicher Bedenken, aber das ist als Grund nicht haltbar. Die IFSC praktizierte die ganzen Jahre über eine Hinhaltetaktik, wir bekamen immer wieder neue Arbeitsaufträge – und das wars. Wir haben über Jahre hinweg Stichproben genommen, 2022 beispielsweise bei allen Weltcups. Aus diesen eindeutigen Daten folgten aber keine Konsequenzen, es wurde kein einziger Athlet gesperrt. Jetzt wurden von der IFSC sogar noch einmal die Body-Mass-Index-Grenzwerte heruntergesetzt, für ab 20-Jährige liegt er bei den Männern nun bei 17,25, bei Frauen bei 16,2. Das sind Werte, bei denen eigentlich eine stationäre Aufnahme notwendig wären… das ist ein Hohn.

Sie sind aus Protest ja bereits 2023 von der Medical Commission, bei der Sie seit 2009 Mitglied waren, zurückgetreten…

Ja, ich war aber nicht der Einzige. Auch der damalige Präsident Eugen Burtscher hat sichd azu entschlossen, nicht mehr mitzumachen und erklärte kurz vor mir seinen Rücktritt. Wir wollten damit ein Zeichen setzen. Grund war der so offensichtlich fehlende Wille der IFSC, endlich wirkungsvolle Maßnahmen gegen Essstörungen – genauer gesagt gegen die RED-S-Problematik – im Wettkampfsport zu ergreifen: Als Arzt war für mich diese Untätigkeit nicht mehr akzeptabel.

RED-S: für was steht das?

Das steht für Relative Energy Deficiency Syndrome und ist die sportwissenschaftliche Bezeichnung für Essstörungen. Das beschreibt ein komplexes Bündel an Symptomen: Depressionen beispielsweise, Kraftlosigkeit, das Ausbleiben der Menstruation und eine verringerte Knochendichte, Knochen können also brüchig werden. Das kann durch eine dauerhaft zu geringe Kalorienzufuhr in Kombination mit einem Übertraining auftreten. Im Körper werden Energiereserven mobilisiert – Fett- und Muskelgewebe wird abgebaut, um lebenswichtige Körperfunktionen aufrechtzuerhalten. Langfristig werden dadurch auch das Immunsystem und das Herz-Kreislauf-System geschwächt.

Ist seit Ihrem Rücktritt dann etwas passiert – also von Seiten der IFSC?

Es gibt seit dem vergangenen Jahr neue Richtlinien. Kletterinnen und Kletterer müssen Fragebögen ausfüllen – es geht um Gesundheitsdaten wie Größe, Gewicht und Blutdruck. Bei auffälligen Werten soll eine engmaschige Beobachtung folgen. Und im Rahmen von offiziellen Wettkämpfen werden zufällige Stichprobenkontrollen durchgeführt, Verdachtsfälle werden an eine externe Kommission verwiesen. Bei sehr auffälligen Werten kann es auch zu einer Schutzsperre kommen. Aber erst wenn sicher ist, dass jemand von RED-S betroffen ist, wird die Wettkampflizenz entzogen. Passiert ist das bislang aber noch in keinem Fall. Die IFSC macht es sich ziemlich leicht, sie hat das Thema an die nationalen Verbände verlagert. Die müssen die Atteste ausstellen, damit ihre Kletterer an internationalen Wettkämpfen teilnehmen können. Das ist heikel, weil ein Verband eine Athletin oder einen Athleten mit Chance auf das Treppchen natürlich ungern sperrt.

Und wie positioniert sich der Deutsche Alpenverein zum Thema Essstörung?

Der DAV hat ein klares Präventionskonzept mit festgelegten Grenzwerten. Das ist eine Art Ampelsystem: Rot bedeutet Sperrung. Es gibt zum Saisonstart und unterm Jahr ein Screening. Gibt es dabei Auffälligkeiten, folgen intensivere Untersuchungen, bei denen beispielsweise auch die Knochendichte gemessen wird. Wenn diese Ergebnisse auffällig sind, gibt es zunächst einmal eine Schutzsperre. Wir haben immer mal einen Athleten oder eine Athletin, die kritisch sind, aber ich denke, dass dieses System gut greift. Im Nationalkader zumindest ist niemand dabei, der nicht abgeklärt wurde. In Deutschland ist das Leistungsklettern übrigens die einzige Sportart, bei der dieses Thema seitens des Verbandes im Fokus steht und es Maßnahmen dagegen gibt.

Als Sportarzt des Bundeskaders sehen Sie viele Athletinnen und Athleten. Sprechen Sie es bei den Untersuchungen an, wenn jemand sehr dünn ist?

Also ich mache diese Untersuchungen seit 1997, das Thema Ernährung wurde in all den Jahren schon immer abgefragt. Wenn ich sehr auffällig dünne Kletterinnen oder Kletterer habe, spreche ich es an. Manche sind sehr dankbar dafür, dass die Magersucht zum Thema wird, andere hassen mich dafür. Es gibt aber auch welche, die nicht extrem dünn sind. Da komme ich zunächst gar nicht darauf, dass sie eine Essstörung haben. Bei manchen ist der Zahnstatus dann aber ein Indiz dafür, dass eine Bulimie-Erkrankung vorliegt. Wenn es keine Alarmsignale gibt, wird es aber schwierig. 

Was könnte helfen? Im Gespräch sind beispielsweise ein angepasster Routenbau – der beim Lead eher auf Maximalkraft setzt – oder auch bei einem zu niedrigen Body Mass Index das Tragen von Gewichtswesten bei Wettkämpfen. Was halten Sie davon?  

Das mit dem Routenbau war schon vor 15 Jahren Thema… das ist aber schwer zu steuern und kaum umsetzbar. Gewichtswesten sind aus sportorthopädischer Sicht zwar keine gute Idee, auch wenn sie bereits im Training eingesetzt werden. Aber es wäre tatsächlich eine pragmatische Lösung, die ich nicht ganz ausschließen würde. Zumindest wäre der Vorteil, den ein runtergehungerter Athlet durch ein sehr geringes Gewicht hat, weg. Das hätte auch die Konsequenz, dass weniger Wettkampfkletterer in eine Essstörung geraten, weil sie ja wissen, dass sie bei den Wettkämpfen eh mit einem Gewicht, der nicht unter einer bestimmten BMI-Grenze liegt, klettern müssen.

Wie kommt man aus einer Essstörung wieder raus?

Das ist zumeist ein langer Prozess. Wenn jemand eine Schutzsperre für Training und Wettkampf bekommen hat, wird erst einmal gemeinsam ein schriftlicher Behandlungsplan erarbeitet. In diesem Stadium haben dann die Behandlung – immer unter psychotherapeutischer Begleitung – und Regeneration absolute Priorität. Erst nach erfolgreicher Behandlung und nachdem bei der sportmedizinischen Untersuchung grünes Licht gegeben wurde, kann die Sperre wieder aufgehoben werden. Dann folgt das Return-to-Train. Das Angebot für Betroffene ist da, die Betreuung engmaschig.

Wie wichtig ist die Prävention? Sollte man nicht schon bei den ganz jungen Kletterern ansetzen?

Prävention ist definitiv wichtig. Es gibt bereits Jugendrockcamps und Workshops mit Kindern oder das Eltern-und-Kind-Klettern, da wird das Thema Essen auch angesprochen. Gerade bei den jungen Talenten spielen die Role Models eine große Rolle. Und da ist es sehr gut, wenn eine Janja Garnbret sagt, sie wolle keine Skelette im Leistungsklettern haben. Ich bin dankbar, dass sie das so offen sagt. Wichtig ist aber auch, dass Betroffene offen darüber reden. Dass es kein Tabuthema mehr ist, ein größeres Bewusstsein entsteht, was eine Essstörung bedeutet. Noch mal: Langfristiges Hungern kann extreme Langzeitfolgen haben – und trotz Therapie den Tod bedeuten.

Letzte Frage: Sie sind selbst ein ambitionierter Kletterer und Boulderer: Wie ernähren Sie sich? Achten Sie auf Kalorien?

Natürlich achte ich darauf, wenn auch lange nicht mehr so genau wie früher. Dennoch, eine Essstörung hatte ich nie, dafür schmeckts mir einfach zu gut… aber ganz klar, ein Thema ist das bei jedem, der leistungsambitioniert unterwegs ist.

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