» Dünn sein um jeden Preis « Interview mit Staša Gejo
Es sind nur wenige Spitzenathletinnen wie Janja Garnbret oder Staša Gejo, die öffentlich über Essstörungen sprechen – und von der IFSC fordern, zum Schutz der Athletinnen und Athleten härtere Richtlinien einzuführen. Nach dem Rücktritt des deutschen Sportarztes Volker Schöffl von der Medical Commission der IFSC in diesem Sommer wurde das Tabuthema zumindest eine Zeitlang öffentlich diskutiert. Schöffl begründete seinen Schritt damals mit dem fehlenden Willen der IFSC, endlich wirkungsvolle Maßnahmen gegen Essstörungen – genauer gesagt gegen die RED-S-Problematik – im Wettkampfsport zu ergreifen: Als Arzt könne er die Untätigkeit der IFSC nicht weiter akzeptieren. RED-S (Relative Energy Deficiency Syndrome in Sports) ist die sportwissenschaftliche Bezeichnung für Essstörungen, RED-S beschreibt ein komplexes Bündel an Symptomen: Depressionen beispielsweise, Kraftlosigkeit, das Ausbleiben der Regelblutung und eine verringerte Knochendichte, die durch eine dauerhaft zu geringe Kalorienzufuhr in Kombination mit einem Übertraining auftreten können.
Kletterszene.com sprach mit Staša über die Bedeutung von Gewicht im Leistungsklettern, die Gefahr, in eine Essstörung zu geraten, wie man aus einer solchen wieder herausfindet – und weshalb dünn sein nicht unbedingt erfolgreich bedeutet.
Staša, was denkst du dir bei den Wettkämpfen beim Blick auf die Teilnehmerinnen und Teilnehmer?
Viele sind so extrem dünn, aber das ist quasi ja schon Normalität. Das große Problem ist, dass viele denken, dass dadurch ihre Perfomance besser wird… aber das ist nicht zwangsläufig so. Leistung ist nicht ausschließlich vom Gewicht abhängig. Und bei einer Anorexie hat dein Körper irgendwann auch nicht mehr die notwendige Energie, um Leistung zu bringen. Beim Bouldern merke ich es beispielsweise nicht spürbar, dass ich im Vergleich zu vielen anderen Athletinnen deutlich schwerer bin.
Du hast vor einiger Zeit sehr offen auf Insta darüber geschrieben, dass auch du einmal unter einer Essstörungen gelitten hast. Was war damals?
Ich war damals 16 Jahre alt und bin nach Slowenien gezogen, habe damals in einem Studentenwohnheim gelebt. In der Mensa gab es dreimal täglich etwas zu essen, alles war gebraten, kalorienreich. Ich habe dann schnell zugenommen, ich war damals auch in der Pubertät. So viel hatte ich noch nie gewogen, also ich war schon ein bisschen rund – und das hat auch meine Perfomance beeinflusst. Ich habe dann versucht, abzunehmen, beispielsweise auf Zucker zu verzichten – aber es ist nichts passiert. Ja, und dann habe ich irgendwann beschlossen, kein Abendessen mehr zu essen. Das war 2014 im Winter. Ich bin damals vier Mal in der Woche Laufen gegangen und hatte fünf Trainings. Das Gewicht ging nach unten, irgendwann wog ich 60 Kilo und fühlte mich so leicht, so stark. Ich konnte nicht mehr stoppen, machte weiter. Insgesamt nahm ich zehn Kilo ab – und wog schließlich nur noch 55 Kilo. Ich hatte damit übrigens noch immer keinen kritischen BMI-Wert. Ich bekam dann zwei Jahre lang keine Periode mehr. Ich konnte nur noch schlecht schlafen, bin hungrig aufgewacht. Ich hatte keine Energie mehr, war schlecht drauf. Ich hatte beim Laufen schlimme Bauchkrämpfe. Es ging mir einfach scheiße.
Und wie bist du aus der Nummer wieder rausgekommen?
Na ja, irgendwann war auch mir klar, dass ich mehr essen sollte. Das sagten mir meine Eltern, Freunde, Ärzte immer wieder. Ich habe es dann auch mit Hilfe einer Ernährungsberaterin und Ärzten geschafft, langsam wieder mein Essverhalten zu verändern und wieder zuzunehmen – etwa zwei Kilo pro Jahr. Jetzt wiege ich etwa 67 Kilo – bei einer Größe von 1,75 Meter.
Versuchst du auch jetzt noch, abzunehmen?
Manchmal probiere ich es – gerade vor wichtigen Wettkämpfen. Aber unter eine bestimmte Grenze geht das nicht mehr. Mein Körper macht da einfach nicht mehr mit und sagt mir deutlich, dass er eine bestimmte Kalorienmenge braucht. Ich weiß inzwischen, dass eine ausgewogene Ernährung mir guttut und ich nur so Leistung bringen kann. Wenn ich zu wenig esse, wird mir schwindelig, ich werde traurig oder sogar depressiv, kann nicht mehr richtig schlafen – also es sind die gleichen Symptome wie früher. Ich habe mittlerweile gelernt, die Signale meines Körpers nicht zu ignorieren. Wenn er sagt, jetzt geht es nicht mehr, esse ich mehr. Auch, wenn ich gerne für Lead manchmal etwas leichter wäre.
Wie groß ist das Thema inzwischen unter den Athletinnen und Athleten? Tauscht ihr euch darüber aus?
Ja, wir reden schon öfters darüber. Manche erzählen, dass sie Magenprobleme haben, allergisch auf bestimmte Lebensmittel reagieren. Der Körper entwickelt Intoleranzen. Manchmal habe ich aber den Eindruck, dass viele sich nicht bewusst sind, was das langfristig für gravierende Konsequenzen haben kann – oder es einfach ignorieren. Ich denke, dass die betroffenen Athletinnen und Athleten unbedingt Unterstützung bräuchten, von den Eltern und den Coaches. Beim amerikanischen Team fehlt die beispielsweise komplett. Dort gibt es keinen Psychologen oder Ernährungsberater als Ansprechpartner. Alleine aus einer Essstörung wieder rauszukommen, ist aber kaum möglich. An der Weltspitze gibt es sehr viele, die damit ein großes Problem haben. Ein anderer Aspekt ist, dass durch das Runterhungern und extrem dünn sein zumindest für eine bestimmte Zeit eine bessere Leistung möglich ist. Das Hungern ist fast wie Doping… und das ist gegenüber den anderen Athletinnen und Athleten auch nicht wirklich fair.
Du hast Anfang Dezember 2021 an einem Meeting der IFSC Medical Commission als Vertreterin der Athletinnen und Athleten teilgenommen, bei dem es um dieses Thema ging – beziehungsweise darum, wie man das Problem Essstörungen angehen könne. In den vergangenen zwei Jahren ist aber nicht wirklich viel passiert, oder?
Nach außen hin vielleicht nicht, backstage aber schon einiges. Ich bin allerdings inzwischen in einer anderen IFSC-Commission, aber ich weiß, dass die Kommunikation zwischen der Medical Commission und der IFSC schwierig ist. Die Frage ist, welche Kriterien es geben soll, um Athleten und Athletinnen, die einfach zu dünn sind, sperren zu können.
Alleine den BMI-Wert herzunehmen, wäre rechtlich nicht haltbar. Der BMI ist ja nur ein Durchschnittsparameter. Die Überlegung ist, verschiedene Tests – unter anderem von Blut und Hormonen, aber auch einen psychologischen Test – zu machen, bei denen Punkte vergeben werden. Wenn man dann mit seiner Gesamtpunkzahl im roten Bereich landet, darf man nicht starten, im gelben bleibt man unter Beobachtung, braucht Unterstützung und bei grün darf man starten. Offene Fragen sind aber beispielsweise, wie viel Zeit ein Athlet für diese Tests haben soll, wo sie gemacht werden sollen und wer dann die Tests bewertet. Das alles ist mit rechtlichen Details verknüpft, das dauert natürlich Zeit… wobei die IFSC aber schon superlangsam ist.
Volker Schöffl, der viele Jahre in der Medical Commission war, hat deshalb ja auch frustriert hingeschmissen…
Ja, aber nicht nur Volker ist gegangen, auch der Österreicher Eugen Burtscher, der Präsident war. Geholfen hat das aber leider auch nicht wirklich etwas. Außer, dass es eine Zeitlang Thema in der Öffentlichkeit war. Dass es neue Regeln geben wird, ist sicher – sehr wahrscheinlich auch schon im kommenden Jahr. Die große Frage ist, was die IFSC dann daraus machen wird. Stand heute müssten dann viele Athleten und Athletinnen gesperrt werden.
Alex Megos sagte vor Kurzem, der IFSC müsse einfach schnell eine knallharte Grenze setzen: unter einem BMI von 17,5 darf nicht mehr gestartet werden. Was sagst du dazu?
Grundsätzlich ist das gut, ich wäre auch dafür. Der Wert von 18 ist schon kritisch, darunter wird es gefährlich. Allerdings haben wir ja das rechtliche Problem. Das heißt, dass ein BMI-Grenzwert keine wirkliche Lösung bietet. Aber grundsätzlich ist jede Maßnahme, die erstmal jemanden zeigt, dass dieses extreme Untergewicht Konsequenzen – ein Startverbot – hat, gut. Nationale Verbände scheuen diesen Schritt natürlich, weil sie erfolgreiche Kletterer starten lassen wollen.
Du hast vorhin gesagt, dass der Körper Energie braucht, um Leistung bringen zu können. Beim neuen Combined-Format mit zwei Disziplinen ja dann sicher noch deutlich mehr?
Ja, absolut. Bestenfalls, also bei Finalteilnahme, drei Runden in zwei Disziplinen zu klettern, ist brutal schwer. Das ist super anstrengend. Dafür braucht der Körper extrem viel Energie – und dafür muss man essen. Bei der Europäischen Qualifikation in Laval für Paris gab es bei einigen sehr dünnen Starterinnen einen Einbruch. Vielleicht führt das neue Format ja auch zu einer Veränderung, zu einem Umdenken: Dass man als Hochleistungssportler dem Körper das geben muss, was er braucht, um Leistung bringen zu können.
Ist es denn tatsächlich so: je dünner, umso besser – und damit erfolgreicher? Janja Garnbret beispielsweise ist ja kein Skelett…
Da bewegt man sich immer in einem Grenzbereich, da muss man die Balance finden zwischen „ich will möglichst leicht sein“ und Anorexie. Klettern ist nun mal ein Sport, bei dem das Gewicht eine Rolle spielt. Um die Performance zu optimieren, wird abgenommen. Aber damit muss auch Schluss sein, es darf keine langfristigen Folgeschäden haben. Es gibt im Weltcup wahrscheinlich nicht mehr so viele Frauen, die noch ihren natürlichen Zyklus haben. Das ist nur eine Folge.
Extremes Untergewicht hat noch andere, gefährliche Konsequenzen. Ich kenne nur wenige betroffene Athletinnen und Athleten, die es geschafft haben, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Aber man sieht ja auch an Janja, dass es möglich ist, gut zu sein, ohne total runtergehungert zu sein. Ich habe die Hoffnung, dass es den derzeit erfolgreichen, starken und muskulösen Boulderinnen und Boulderern gelingt, für die Nachwuchskletterer ein Vorbild zu sein. Beim Lead ist das eher nicht so – leider.
Staša, hast auch du beim Essen immer den Gedanken an dein Gewicht im Kopf – oder isst du inzwischen das, was du möchtest?
Ich habe inzwischen eine gute Routine. Und ich weiß, was mein Körper braucht, ich habe inzwischen eine gute Beziehung zu meinem Bauch. Ich habe nicht mehr so wie früher Binge-Phasen* und ich bin sehr stolz darauf. Ich begrenze mich nicht mehr so sehr wie früher, ich ernähre mich ausgewogen und gesund, es ist eine gute Mischung aus Kohlehydraten, Fetten, Eiweiß, Vitaminen und Mineralien. Ich habe meistens auch mehr Appetit auf ein gesundes Essen als auf eine Pizza. Die esse ich auch, und Kuchen auch, ich esse Zucker, auch das braucht der Körper. Vor und während der Wettkampfphase achte ich mehr auf mein Essen, danach genieße ich dann wieder mal mehr. Aber dann denke ich auch mal wieder „Fuck, nicht so viel essen“ (lacht).
Letzte Frage: was gibt’s bei dir heute zum Abendessen?
Warte, ich muss in den Kühlschrank schauen. Also ich habe Obazda und Salat. Und ich habe Cornflakes. Was ich essen werde, weiß ich noch nicht. Aber essen muss sein, hungrig kann ich nicht schlafen.
*)Binge ist eine Essstörung, bei der es zu periodischen Heißhungeranfällen (Essanfälle, umgangssprachlich auch „Fressattacken“ oder „Fressanfälle“) mit Verlust der bewussten Kontrolle über das Essverhalten kommt.
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