Routenbau — Damals und heute
In den Kindertagen des „professionellen“ Routenbaus hingen wir mittels langer Bandschlinge am Haken, zwischen den Beinen baumelte der Eimer mit den bunten Plastikklumpen, in der Hand der ungesicherte Imbusschlüssel. Irgendwer hatte von einem Ding namens Grigri gehört – alles Quatsch, braucht kein Mensch. Man war euphorisch, voller Tatendrang, die Bezahlung (falls überhaupt vorhanden) kaum der Rede wert.
Heute läuft das ganz anders. Nachfolgend die Schilderung einiger Tage modernen Routenbaus. Aus Rücksicht auf beteiligte Personen und Gründen des Datenschutzes werden Namen und Herkunft in abgekürzter Form genannt.
S.O. aus R und meine Wenigkeit reisten bereits am Abend zuvor an, so entgeht man dem allmorgendlichen Berufsverkehr und kann stressfrei und ausgeschlafen sogleich frisch ans Werk gehen. Die Wegstrecke von knapp 350 km verlief weitgehend reibungslos, beinahe hätten wir uns nicht verfahren, nach rund 400 km erreichten wir kurz vor Mitternacht die Halle. Jetzt das wohlverdiente Feierabendbierchen und ab auf die Bouldermatte, rein in den kuscheligen Schlafsack. Am Morgen würden noch J.K. aus R (ein anderes R) und G.W. aus E zu uns stoßen, ein klassischer Vier-Mann-Job.
Abgemacht war gegen halb neun morgens, somit mussten die beiden sicher weit vor sechs Uhr aufstehen – selber schuld, sie wollten ja nicht auf uns hören.
Kurz vor neun weckte mich das Klingeln meines Handys, draußen vor verschlossenem Tor wartete J.K. aus R und er wirkte weit frischer als ich oder S.O. aus R (ein anderes R). Wir hatten keine drei Stunden geschlafen — das Bier schmeckte und es gab irgendwie unendlich viel zu erzählen.
Während des Frühstückens traf G.W. aus E ein, wenigstens er sah müde und gerädert aus.
Gegen zehn begannen wir mit der Arbeit, die Aufteilung war rasch geklärt. S.O. und J.K. aus unterschiedlichen R’s würden bei frischen Temperaturen und unangenehmem Wind die Außenwand in Angriff nehmen, G.W. aus E sich um den wenig inspirierenden Boulderraum kümmern und ich selbst einige ausgesuchte Highlights mit den eigens mitgebrachten, brandneuen Griffsets bauen. Eigenartigerweise gab es keinerlei Einspruch. Aber wie auch — G.W. aus E taugt ohnehin nur zum Boulderbauen, J.K. aus R ist ein vollkommen tiefenentspannter Typ und ohnedies lieber draußen, und S.R. war schlicht zu müde, die Situation zu überreißen.
Nun aber zur Praxis. Vorbei sind die Tage der eingeschlafenen Beine vom Hängen im Gurt, vorbei die Zeiten der Sehnenscheidenentzündung wegen des Schraubens von Hand. In übersichtlichen, stabilen Postkisten hieve ich das wohl überlegte Griffsortiment auf die geräumige Scherenbühne und befestige es mit zwei, drei Handgriffen am Geländer, neben der gut sortierten Schraubenkiste. Ein Eimer mit Spaxen samt Schrauber, auch der Schlagschrauber liegt bereit, in den Ladestationen summen die Ersatzakkus. Jetzt noch die Silikonstöpsel in die Ohren gedrückt und schon kann es los gehen.
Fuck, bin ich müde. Ungelenk steige ich nochmals von der Bühne, lasse mir oben hinter der Theke eine weitere Tasse Cappuccino aus dem Automaten.
Zwei Stunden später habe ich drei wahrhaftige Perlen an die Wand gezaubert, stehe zufrieden und munter im T-Shirt neben der Bühne, mittlerweile trinke ich Latte macchiato. Vom Boulderraum her höre ich G.Ws beständiges Fluchen („Welcher Vollidiot hat hier geschraubt? Da passt ja überhaupt nix …“), wenn er nicht gerade während des Hantierens mit dem Headset telefoniert und ungemein busy und wichtig erscheint.
Dann schlägt die Tür auf und zwei Typen in Daunenjacken und Wollmützen schlappen mit roten Wangen und Nasen zur Halle rein. Ein unangenehmer Wind folgt ihnen, mich fröstelt ein wenig. »Und, wie läuft’s?«, erkundige ich mich aufrichtig, ohne Hintergedanken. „Leck mich!“, blafft S.O., während J.K., aus dem anderen R, seiner unerschütterlichen Frohnatur getreu breit grinst. Beide begeben sich direkt zur Kaffeemaschine.
Die Stunden verstreichen und bis zum Abendessen haben etliche Griffe, Tritte und Volumen ihre neuen Plätze an den Wänden eingenommen, alles in allem sind wir sehr mit uns zufrieden, alles ausnahmslos erstklassige Routen und Boulder, darunter nicht wenige, die zum Besten zählen, was je ein Menschenauge geschaut. Und da unser Auftraggeber das ganz genauso sieht, lädt er uns spontan zum Essen samt anschließendem Bierchen ein.
Um halb eins begeben G.W. aus E und J.K. aus R sich in ihre schlaftauglichen Autos und S.O. und ich uns zurück in die Halle.
Zuvor, während des Essens und anschließendem geselligen Beisammensein, hat uns der Hallenbetreiber eröffnet, dass es neuerdings einige sehr vielversprechende, starke Nachwuchstalente bei ihm gäbe, weswegen es unbedingt noch eine 10- in der Halle bräuchte. Bereits am Nachmittag war mir aufgefallen, dass die Griffe im oberen Drittel der 8a (der bis dato schwersten Route vor Ort), einen recht jungfräulichen Eindruck machten. Aber gut, er muss es wissen.
Nach dem Zähneputzen verkünde ich gähnend: „Ich bin durch, ich hau mich hin.“ S.O. aus R steht im Halbdunkel unter dem steilsten Wandbereich der Halle und starrt nach oben. Er wirkt konzentriert und sein linkes Auge zuckt eigenartig. Ich ahne bereits, was nun kommt, versuche aber dennoch mein Glück: „Komm Alter, schon spät, morgen gibt es viel zu tun, lass uns schlafen gehen.“ Aber S.O. aus R ist noch topfit und motiviert. Er geht das jetzt an und baut eben noch rasch den Zehner. Er hat bereits alles vor Augen, das geht ganz fix, das wird eine klasse Tour, der absolute Wahnsinn! Ich verdrehe die Augen, mach auf dem Absatz kehrt und lass ihn stehen. Bei den Bouldermatten angelangt muss ich feststellen, dass G.W. aus E ganze Arbeit geleistet hat. Wie kann ein einzelner Mensch an nur einem Tag eine solche Menge Chalk auf der Matte hinterlassen?!?. Ah, drauf geschissen, ich bin zu müde dafür, der Schlafsack wird den Staub schon abhalten. Ich schließe eben die Augen, als ein dumpfes Klicken ertönt und die Halle eine Zehntelsekunde später in gleißendes Licht getaucht wird. Ich beginne S.O. aus R zu hassen.
In der nächtlichen Stille einer großen Kletterhalle wird aus dem an und für sich unerhebliche Summen einer Hebebühne ein sehr eindringliches Kreischen. Und das Hämmern einer Hilti weckt Mordgelüste. Ich ziehe mir den Schlafsack über den Kopf und schwöre, ihn diesmal sofort nach der Heimkehr in die Waschmaschine zu stecken.
Irgendwann muss ich dann trotz aller Widrigkeiten eingeschlafen sein, denn als ich die Augen wieder öffne, ist es 3 Uhr nachts, taghell und S.O. aus R hat offenbar beschlossen, dass ihm zum Lärm von Bühne und Schlagschrauber nur mehr laute Musik fehlt. In Unterhose schleppe ich mich die Treppe hinunter, drehe unten angekommen die Musik ab und erkläre ihm mit wenigen, freundlichen Worten (die ich hier besser nicht wiedergebe), was ich von seiner Aktion halte und was ich mit ihm anstelle, wenn er nicht augenblicklich damit aufhört. S.O. aus R zeigt sich wenig beeindruckt, aus rund 14 Metern Höhe hat ein wütendes Männlein in Unterhosen scheinbar wenig bedrohliches.
Da ich nun schon einmal wach bin und an baldiges Einschlafen nicht zu denken ist, beschließe ich, kacken zu gehen. Auf der Schüssel sitzend, gegen die Trennwand der Kabine gelehnt, fallen mir die Augen zu. Es stinkt.
Morgens um acht weckt mich das Klingel meines Handys, draußen vor verschlossener Tür warten J.K. aus R und G.W. aus E. Sie sind guter Dinge, die Sonne vertreibt eben die letzten Nebelschwaden, sie wollen Frühstücken und dann gleich loslegen. „Gott, siehst du scheiße aus!“, begrüßen sie mich an der Tür.
Während des Frühstücks regt J.K. aus R an, dass wir zunächst einige der gestrigen Routen testen sollten. Ein wenig Feedback könne nie schaden, sich untereinander abstimmen, und der neue Zehner sähe ja sehr interessant aus. Dazu fällt mir wenig ein, aber S.O. aus R ist urplötzlich hellwach, nachdem er bisher kaum ein Wort gesprochen hat und kreidebleich im Stuhl hing.
Nach einigen, wenigen Aufwärmtouren begibt sich J.K. aus R ins nächtliche Masterpiece. Von S.O. gesichert und angeleitet kommt er bereits nach halber Wegstrecke zurück zum Boden, faselt irgendetwas von 8b (mindestens) und wirkt doch recht überrascht. S.O. steigt nun selbst in die Tour, schnauft, stöhnt und kämpft sich bis ganz nach oben. Wieder am Boden wird diskutiert, die Route für hammergeil befunden, sich auf hart 8c geeinigt und festgestellt, dass man ein kleinwenig übers Ziel hinausgeschossen sei. Schweren Herzens wird das Schmuckstück wenig später zur 8a+ degradiert.
Bis zum spätem Nachmittag füllt sich die Halle kontinuierlich mit weiteren neuen Routen und Bouldern und da sie von heut an wieder der Öffentlichkeit zugänglich ist, zusehends mit Kundschaft, sodass wir die Arbeit einstellen. Wir begeben uns ins Bistro, verfolgen bei Pizza und Bier das bunte Treiben und nehmen demütig Schulterklopfen und Lob entgegen.
Um zehn ist offiziell Kletterschluss, bis elf würden dann auch die Letzten gegangen sein. S.O. aus R und ich stimmen darüber ein, dass wir keine Viertelstunde später in unseren Schlafsäcken liegen würden. Da wussten wir allerdings noch nicht, dass …