Abwärtsspirale – Tabuthema Essstörungen
„Light“: In diesem fast 50-minütigen Dokumentarfilm von Caroline Treadway geht es um das Tabuthema Essstörungen in der Kletterszene. Je dünner, umso besser – das ist eine ungesunde, aber verbreitete Praxis im Kampf um die großen Erfolge und dem Streben nach einer Leistungsoptimierung. Bekannte Athleten wie Angie Payne, Emily Harrington und Kai Lightner berichten in der Dokumentation sehr offen, was der permanente Nahrungsentzug für sie bedeutete. Kletterszene.com sprach mit dem promovierten Sportpsychologen Kai Engbert über dieses Tabuthema. Es sei wichtig, dass sich Sportler um ihren Körper kümmern, sagt der 44-Jährige. Kai Engbert betreut beim Deutschen Alpenverein (DAV) die Athletinnen und Athleten des Bundeskaders, er weiß, wie Spitzensportler ticken.
Ks.com: Kai, wie findest du die Dokumentation?
Kai Engbert: Grundsätzlich finde ich es gut, dass das Thema Essen – beziehungsweise Probleme mit dem Essen – in der Öffentlichkeit thematisiert wird. Gerade bei Sportarten, in denen das Gewicht zur Leistungserbringung eine Rolle spielt, also auch das Klettern, ist das besonders wichtig.
Denkst du, dass sich dadurch etwas verändern wird?
Ich hoffe es. Zumindest wird dann auch mal über die negativen Seiten der Gewichtabnahme gesprochen und das ist ja schon mal ein erster Schritt. Wenn sich jemand sehr stark auf ein möglichst geringes Körpergewicht fokussiert oder sich ausschließlich darüber definiert, wird es problematisch. Vielleicht animiert der Film, sein eigenes Vorgehen zu reflektieren, sich zu hinterfragen, ob man zu sehr in diese Richtung abdriftet. Eine deutliche Reduktion ist eben mit erheblichen Nebenerscheinungen und Folgeschäden verbunden, wie beispielsweise Osteoporose. Unterernährung und deutliches Untergewicht haben aber auch psychische Folgen wie reduziertes Selbstvertrauen, emotionale Probleme oder ein gestörter Bezug zum eigenen Körper. Langfristig gesehen führt das dann zu einer Abwärtsspirale, bei der sich dann die anfänglich erzielten Leistungsvorteile durch das geringe Gewicht ins Gegenteil kehren.
Aber ein möglichst niedriges Gewicht ist doch gerade beim Leadklettern fast ein Muss – das bedeutet doch zwangsläufig Abnehmen und Hungern…
Da ist tatsächlich ein gewisser Widerspruch. Bei Gravitationssportarten ist es einfach von Vorteil, weniger Masse bewegen zu müssen. Da muss man mit harten Bandage kämpfen, aber nicht mit ungesunden. Wenn man weniger wiegt, wird man vielleicht zunächst Erfolgserlebnisse haben – zumindest eine Zeitlang ist das so. Aber es wäre fatal, einen falschen Ehrgeiz zu entwickeln und sich hauptsächlich über ein möglichst niedriges Gewicht zu definieren. Im internationalen Spitzenbereich spielt das Gewicht sicherlich ein Baustein auf dem Weg zum Erfolg, aber das darf natürlich nicht extrem und einseitig angegangen werden, weil das dann die Wahrscheinlichkeit einer Essstörung erhöht.
Sind Essstörungen nach wie vor ein Tabuthema im Leistungssport?
Ich denke, es gibt noch immer eine große Unsicherheit im Umgang mit diesem Thema. Bei den Betroffenen, aber auch bei den Trainern. Der Film trägt hoffentlich dazu bei, aufzuklären – und das ist gut so. Es ist wichtig, dass sich Sportler um ihren Körper kümmern. Aber auch gesamtgesellschaftlich gesehen wäre es gut, wenn das Thema auf den Tisch kommt.
Zuletzt haben einige Athletinnen öffentlich über ihre Essstörung geschrieben. Ist das immer auch ein Hilferuf?
Outings sind mutig – und auch immer ein Hilferuf. Viele Betroffene schämen sich, weil sie das Gefühl haben, die Kontrolle über ihren Körper verloren zu haben. Und verheimlichen ihre Probleme. Aber es wäre sehr wichtig, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen. Und es gibt inzwischen zum Glück viele Beratungsangebote.
Sind vor allem Sportlerinnen betroffen?
Ich denke, dass das im Hochleistungssport genauso ein Thema für Männer ist. Das trifft beide Geschlechter gleich. Es gibt genauso männliche Sportler, die Probleme bekommen, weil sie zu lange zu sehr die Nahrungsaufnahme reduziert haben. Gesamtgesellschaftlich gesehen sind Essstörungen – also Magersucht, Bulimie oder Binge-Eating – aber sicher bei Mädchen und Frauen häufiger zu finden. Das liegt mit am weiblichen Schönheitsideal: Dünn zu sein, ist erstrebenswert, dünn zu sein bedeutet, schön zu sein. Im Spitzenbereich im Sport ist das anders, da geht es ja nicht darum, vermeintlich schön zu sein, sondern darum, mehr Leistung erbringen und in der Weltspitze mitmischen zu können.
Wie erkennt man, dass jemand an einer Essstörung leidet?
Erste Hinweise für gestörtes Essverhalten sind ein auffälliger Gewichtsverlust, verstärktes Konsumieren von Diätprodukten, sehr langsames oder kontrolliertes Essen sowie das bewusste Verzichten auf bestimmte Nahrungsmittel – beispielsweise Fett, Zucker oder andere Kohlenhydrate. Besondere Vorsicht ist auch geboten, wenn Betroffene immer weniger gesunde Kost zu sich nehmen, Mahlzeiten weglassen, unregelmäßig essen und Nahrungsmittel kategorisch in gut oder schlecht einteilen. Rote Warnlampen sind das rigorose Verweigern von Nahrung, das Verleugnen von Hunger oder absichtliches Erbrechen.
Und wie kann man helfen?
Im Sport und auch in der Gesellschaft müsste ein neues Bewusstsein entwickelt werden. Sich nur über das Dünnsein oder sein Körpergewicht zu definieren, ist nicht gesund. Wenn jemand glaubt, an einer Essstörung zu leiden, dann sollte er sich sportpsychologische oder psychotherapeutische Hilfe suchen. Im Sport ist eine große Sensibilität seitens der Trainer notwendig – beispielsweise müssen bei einer Gewichtsreduzierung realistische Ziele gesetzt und die Sportler mit Know-how unterstützt werden. Hier kann auch eine professionelle Ernährungsberatung hilfreich sein. Und grundsätzlich ist wichtig, dass Betroffene nicht alleine gelassen werden.
Sind ambitionierte Freizeitkletterer eigentlich auch betroffen?
Es gibt eine relativ große Szene mit sehr leistungswilligen Kletterern, die zwar nicht an Wettkämpfen teilnehmen, aber die sehr ambitioniert am Fels unterwegs sind. Ich denke, dass da viele dabei sind, die versuchen, durch Abnehmen schwerer klettern zu können. Das Thema Gewicht wird bei diesen Kletterern genauso eine Rolle spielen. Nur, dass sie nicht zum Olympiastützpunkt gehen können, um sich Hilfe zu holen und beraten zu lassen – wie es die Kaderathleten können. Das ist ähnlich wie beim Thema Doping: Um ein paar Grade rauszuholen, ist man bereit, viel zu tun. Und wenn dann mal ein Satz fällt wie „du bist zu fett, du kommst da nie hoch“, kann das schon etwas auslösen und den Beginn einer rigorosen Hungerkur bedeuten.
- Mehr Infos über Kai finden sich unter: www.sportpsychologie-muc.de