Die wilden Zeiten des Kletterns – Interview mit Kletterlegende Norbert Sandner
Norbert Sandner zählt zu den Ikonen des fränkischen Kletterns, er hat die wilden Zeiten des Sportkletterns nicht nur miterlebt – sondern auch mitgeprägt. Gemeinsam mit Kurt Albert gründete er die legendäre Kletter-WG in Oberschöllenbach, kurze Zeit später kam Wolfgang Güllich dazu. Im Interview mit Kletterszene.com erzählt der 70-jährige Franke, dessen Leben vom Klettern geprägt ist, von den wilden Jahren in der WG, der Erfindung des Campusboards, der Rotpunkt-Bewegung – und wie es mit 70 Jahren noch mit dem Klettern läuft.
Ks.com: Seit wann kletterst du?
Ich war das erste Mal mit zehn Jahren mit meinem alten Herrn in der Fränkischen, damals habe ich mit dem Klettern begonnen – das war, glaube ich, am Zehnerstein. Mit elf habe ich dann meine erste Gebirgstour gemacht, wir haben damals die Überschreitung der drei Sellatürme gemacht.
Kannst du erklären, was für dich das Faszinierende an diesem Sport ist?
Gute Frage. Früher stand bei mir die Leistung im Vordergrund – später dann die vielen Freundschaften und Bekanntschaften, die ich über das Klettern geschlossen habe. Wir haben ja Mitte der 70er-Jahre das Freeclimbing, das Sportklettern, nach Franken gebracht. Es ging aber nie nur um den Sport, sondern auch um den Lebensstil… darum, ein freies, ein ungebundenes Leben führen zu können.
Eher Alpin- oder Sportklettern?
Also mein Beginn war ja noch das technische Klettern, da kamen auch noch Trittleitern zum Einsatz. 1975 wurde dann von Kurt (Albert, Anm. Ks.com) der erste rote Punkt an den Fels gesprüht. Für die Rotpunktbewegung hatten Kurt und ich die Idee, die hat das Klettern komplett revolutioniert. Seitdem ging es darum, eine Route ohne Hilfsmittel und ohne Sturz im Vorstieg zu klettern. Ich habe damals dann auch einige Rotpunkt-Begehungen in den Alpen gemacht. Beides macht mir Spaß, aber am liebsten ist mir doch das Sportklettern – das kann man ja auch kombiniert als Mehrseillängen-Touren machen.
Was sind in deinem langen Kletterleben deine Highlights?
Das ist superschwer zu sagen. Markant in meinem Kletterleben war sicher der Oktober 1977 im Yosemite. Damals habe ich die „Nose“ am El Capitan in eineinhalb Tagen und die Half-Dome-Nordwestwand in acht Stunden gemacht – beides zusammen mit Kurt. Außerdem konnte ich dort das erste Mal 5.12er-Touren klettern, wie die Begehung der „Hot Line“. Im Gebirge ist mir vor allem unsere erste Rotpunkt-Begehung des „Bayerischen Traums“ an der Wetterstein-Südseite im Gedächtnis geblieben, etwas Besonderes war aber auch die Solo-Begehung der „Fleischbank SW-Wand“ im Wilden Kaiser …aber ich habe mich genauso gefreut, wenn ich in Franken an einem Tag fünf oder sechs Siebener Free Solo gemacht habe.
1974, nach dem Unfall an der Marmolada, als du beim Abstieg in der Nordwand etwa 500 Meter tief gestürzt bist und das Ganze schwerverletzt überlebt hast: Hast du dir damals überlegt, mit dem Klettern aufzuhören?
Ich habe mir damals in der Klinik in Cortina die Frage gestellt, was ich machen will. Ich sagte mir, dass ich den Sturz überlebt, einfach Riesen-Glück gehabt hatte – und dass ich einfach nach vorne schauen werde. Ich habe damals nicht geglaubt, dass ich jemals wieder klettern werde. Es war dann später aber vor allem eine psychische Herausforderung, wieder damit anzufangen. Dazu kamen noch ein steifer Ellenbogen und ein fixiertes Sprunggelenk.
Der Sturz hat aber Weichen für dein Leben gestellt: keine Profikarriere, sondern eine Ausbildung zum Sportartikelkaufmann…
Ich war auf dem Weg zum Profikletterer, das war mein großer Traum. Der Sturz hat mein Leben geändert, ich habe dann auch noch eine Ausbildung zum staatlichen Bergführer gemacht und ein Marketing-Wirtschaftsstudium drangehängt. Semi-Profi wollte ich nicht sein, ich habe ein anderes Mindset gehabt. Mit dem steifen Arm wäre das schwierig geworden.
Das Klettern hat aber auch dein berufliches Leben geprägt: Du bist Bergführer, hattest die erste deutsche Sportkletterschule, mit Wolfgang Güllich einen Kletterschuhvertrieb, ein Sportgeschäft und eine Kletterhalle in Nürnberg, hast bei Kletterfilmen mitgespielt – und hast zuletzt auch noch für Patagonia gearbeitet.
Ja, ich war zunächst für Patagonia Vertriebsleiter für Deutschland und später auch noch für Europa. Zuletzt war ich dort der Ambassador Manager, ich habe die Athleten, beispielsweise Alex Megos, betreut… und das war der beste Job, den ich hatte. Das habe ich bis vor zwei Jahre gemacht. Die Kletterschule, das Geschäft und die Kletterfilme haben sich ergeben, das eine führte zum anderen. Ich habe das Glück gehabt, von meinem Sport auch gut leben zu können. Ich konnte mit viel Spaß mein Geld verdienen. Das war auch wichtig, um das „Hotel Frankenjura“, die WG in Oberschöllenbach, finanzieren zu können. Teilweise lebten dort bis zu 20 Kletterer, die meisten hatten nur wenig oder gar kein Geld. Ich war der Einzige mit einem festen Job.
Die legendäre Kletter-WG in Oberschöllenbach: zählt diese Zeit mit zu deinen besten Jahren?
Das Leben verändert sich, es ist jetzt auch schön mit Frau und Kindern. Aber die Jahre damals waren die ereignisreichsten und wildesten. In der WG war andauernd viel geboten, die bekanntesten Kletterer gaben sich die Klinke in die Hand. Jerry Moffat wohnte sogar lange bei uns. Gegründet haben die WG Kurt, ich und unsere damaligen Freundinnen – das war Anfang der 80er-Jahre. Später kam dann Wolfgang dazu und im Laufe der Zeit kamen immer mehr Gäste. Ich habe damals den „Erdenkäufer und Falk“, das Klettergeschäft in Nürnberg, übernommen und wenn ich abends gestresst nach Haus kam, saßen da zehn oder 20 Kletterer und erzählten von ihrem Klettertag und ihren Touren. Ich habe mich dann oft erst einmal nach oben verzogen, aber dann kamen schon bald Wolfgang, Jerry oder irgendein anderer Freak und wir diskutierten übers Klettern.
Trotz Chaos wurde hart geklettert – und trainiert. 1988 wurde dann auch das Campusboard entwickelt. Wie kam es dazu?
Das Campusboard war meine Idee. Ich habe für die Uni Erlangen Kletterkurse gegeben und zwei der Studenten haben in dieser Zeit ein Fitnessstudio gegründet. Das hieß „Campus“. Wir – die Kletterer – durften dort kostenlos trainieren, aber etwas speziell für uns gabs nicht. Ich wollte dann etwas Kletterspezifisches kreieren und habe einen Schreiner mitgenommen… und so ist die Idee für das Campusboard entstanden. Das gibt es jetzt weltweit millionenfach, das ist witzig. Wolfgang hat für die „Action“ damit trainiert, damit ist es dann auch bekannt geworden. Ich habe aber nie ein Patent für das Campusboard angemeldet – und noch heute kommt oft die Frage, weshalb ich es nicht getan habe.
Hat es dich in der WG-Zeit manchmal auch genervt, dass du zwar dafür gesorgt hast, dass alles lief – auch dass das Geld da war -, Wolfgang und Kurt aber viel mehr in der Öffentlichkeit standen?
Ich muss das relativieren, ich war nicht derjenige, der die Beiden ernährt hat. Ich habe im Alltag mehr bezahlt, auch mal Flüge bezahlt – aber Wolfgang und Kurt haben auch etwas durch ihre Werbeverträge oder Führungen für meine Kletterschule verdient. Wolfgang und Kurt hatten eben mehr Zeit als ich, und sie hatten oft einen Fotografen dabei. Da wurde dann eben auch mehr veröffentlicht und sie wurden bekannter als ich. Das hat mir aber nichts ausgemacht. Wolfgang ist besser als ich geklettert. Bei Kurt war es so, dass wir uns ergänzt haben. Er hat die Oberarm-Touren gemacht, ich die kleingriffigen. Kurt hatte ja auch die Zeit für Erstbegehungen, die ich neben der Arbeit nicht hatte – das bedeutet ja einen riesigen Zeitaufwand. Für einen Fulltimejob war meine Kletterleistung aber noch ganz gut, ich konnte zwar oft nur zwei Stunden klettern, dafür dann aber intensiv und fokussiert. Ich war aber eher der Wiederholer und habe mich auf rasche Begehungen von Sportkletterrouten oder die erste Rotpunkt-Begehung von existierenden technischen Routen konzentriert. Wir haben uns aber super ergänzt, waren richtig gut und eng zusammen – Neid gab es keinen.
Vermisst du Wolfgang, der ja schon 1992 nach einem Autounfall starb und Kurt, der 2010 am Höhenglücksteig einen tödlichen Absturz hatte?
Wir waren drei egoistische Männer, die zunächst eine Zweckgemeinschaft hatten. Daraus wurde dann aber eine echte Freundschaft, die, je länger sie dauerte, umso enger wurde. Wolfgang und ich haben uns vor seinem Tod zusammen ein Grundstück in der Nähe von Oberschöllenbach gekauft. Wir wollten dort beide ein Haus bauen. Ich habe das dann auch gemacht und denke oft darüber nach, wie es heute wäre, wenn Wolfgang noch leben und hier neben mir wohnen würde. Bei Kurt ist das genauso, ich denke oft an ihn. Was ich aber nie vergessen werde: bei Wolfgang sagte mir der Arzt im Krankenhaus „Sie brauchen nicht zu hoffen, er ist gehirntot“ – und den genau gleichen Satz hörte ich dann vom Arzt im Krankenhaus nach Kurts Unfall am Höhenglücksteig.
Norbert, du hast die Kletterszene lange Zeit entscheidend mitgeprägt. Wie siehst du die Szene heute?
Inzwischen wieder total offen, total gut. Ich sage immer: „Wie man in den Wald reinschreit, kommt es zurück.“ Es gab eine schlimme Zeit, das waren fünf oder sechs extreme Jahre, in denen sich die Szene abgeschottet hat, es in Franken viele verbissene Kletterer mit Scheuklappen gab, die keine „Fremden“ wollten, die ihre Projekte verheimlicht haben, weil sie nicht wollten, dass ihre Boulder von anderen gemacht wurden. Das war damals ein ziemlich unfreundliches Klima. Das ist jetzt zum Glück wieder anders, die jetzige Generation mit Alex Megos ist weltoffen, er lädt Kletterer von überall nach Franken ein. Das ist eine tolle Entwicklung und ist gut so. Ich gehe auch heute noch gerne mit den jungen Wilden klettern.
Wie läuft es denn mit 70 Jahren mit dem Klettern?
Ich bin zweimal die Woche im Café Kraft, probiere alles aus, versuche, mitzumachen und abzuheben. Nach unserem Gespräch fahre ich dann auch gleich an den Fels, Alex wird auch dort sein… die Aufwärmtouren gehen bei mir schon noch (lacht).
Video-Link: https://youtu.be/SbWvFjUIt5k?si=XoaAVnCe35xEce0X