Das Mittelalter (medium aevum) [Die Geschichte des Kletterschuhs Teil 4]
Eine neue Zeit; für mich und das meist im Frankenjura. Weg von den homöopathischen Hakenverteilungen, angsterfülltem Risskriechen, 25kg Eisen am Klettergurt und 6er Platten, die man einfach nicht klettern kann. Hin zu Löcher, Leisten, Haken, rutschigen Tritten, ausdauertrainigsfaulen Routenlängen und nicht immer ganz sozialadäquaten Ehrgeizlingen. „Neue Zeit gleich neuer Schuh!“ für den konsumorientierten Kletterer.
Vielleicht ein paar Worte, wie man damals die „passenden“ Kletterschuhe findet:
„Die kleinste Größe, die man im Laden noch anbekommt und dann eine halbe Nummer kleiner“ war die übliche Devise. Blöd nur, wenn man eine ziemliche Durchschnittsschuhgröße hat. Die Dinger wurden dann im Laden von anderen schon X-fach anprobiert und hatten die übliche Erstdehnung dann schon hinter sich. Diese „halbe-Schuhgröße-kleiner-kaufen“ brachte dann zu Hause nicht unerhebliche Probleme: Hatte man es mal geschafft, den Schuh überhaupt an die Haxen zu bekommen, ging die Schmerzübung los. Faustformel: Schuhe zu Beginn der Tagesschau anziehen und wenn man es schafft, beim Wetterbericht noch nicht zu wimmern, konnte man sich überlegen, die Schuhe dann mal mit zum Klettern zu nehmen. Am Fels dann eine Aufwärmroute suchen, die ungefähr Klagemauerhöhe hat. Also so fünf bis 8 Meter sollte man am ersten Tag schon aushalten können.
So fand dann die Firma La Sportiva über 2 olfaktorische interessante Kunstlederbrocken den Weg in meinen Kletterrucksack. Keine Ahnung mehr, wie diese schwarzen Dinger hießen, aber La Sportiva fand damit einen neuen Weg der Schuhpassform. Wer es mal gewagt hat, die „Göttner“ an der Bärenschlucht an einem sonnigen Mittag im Juli als Aufwärmrute auszuwählen, wird rasch feststellen, das diese Idee nicht zwingend als gut in den eigenen Erfahrungsschatz aufgenommen werden sollte. Obwohl, „warm“ war man danach…
Wer das allerdings –so wie ich- mit diesem neuen schwarzen kunstledernen La Sportiva, der gerade mal die abendliche Tagesschauanpasszeit unter stetigem Wimmern an meinem Fuß überstanden hat, konnte das legendär neue Passformkonzept der Firma ergründen: Merke: Der Schuh passt sich nicht deinem Fuß an, sondern dein Fuß wird sich dem Schuh anpassen. Das schmerzt!
Werbung gab es für diesen Schuh auch. Ein Garmischer Junge dübelte mit seinem in Sponsorfarben lackierten Bus durch Europa und war ähnlich innovativ wie sein Schuhsponsor bei der Passform. Während ein Herr Schäffler noch in einer der ersten Ausgaben der Kletterbravo im Bikini von den Wänden des Verdon in die Kamera grinste und damit der Begriff des Fremdschämens Eingang in die Kletterszene fand, wurden Bilder vom oben genannten Jungen mit lockigem Wallehaar in bunter Ringelhose im Wochenmagazin einer großen deutschen Zeitung gedruckt. Ein Durchbruch für die Einnahmeseite des Herren aus Garmisch und auch dessen Fotograf.
Aber wir waren ja bei diesem schwarzen Kunstlederschluffen. Es war der „2/3-Superschuh“. Fürs letzte 1/3 wäre es notwendig gewesen, dass der Schuh auch nur ansatzweise der Ferse Halt geboten hätte. Hat er ab nicht, nie! Selbst mehrstündiges Sonnenkochen meiner Füße in dem Ding schaffte es nicht, einen Bezug zwischen meiner Ferse und dem Schuh herzustellen. Dafür stank es immer erbärmlich aus meinem Kletterrucksack, der somit aus meiner studentischen WG per Gemeinschaftsbeschluss seinen Wohnsitz künftig im Auto suchen musste.
Hatte man eine geraume Zeit von der spanischen Firma Boreal, also der Firma, die den legendären „Fire“ auf den Markt gebracht hatte und meiner Meinung nach mitursächlich, wenn nicht hauptverantwortlich für die ungeheure Kraft des WoGü war, nichts mehr gehört, kam plötzlich der „AS“ in nicht nur mein Kletterleben. Wieder eine Entwicklung weg vom halbhohen Knöchelschuh zum Halbschuh. Ein echtes Brett! Das war die Zeit, als ein gewisser WT seine ungeheure Dynamik am Fels zeigte. Ich kenne wenige Leute, die so präzise Schnappen können, unglaubliche Dynamos raus hauen und dieses dynamische Klettern auch mit den Füssen praktizierten. „Tack-Tack“, „Tack-Tack“; man hörte es, wenn WT die schwarzen „As“ präzise auf kleinste Tritte schleuderte. WT war auch an anderer Stelle bei der Benutzung des „AS“ wegbereitend. Dazu muss man wissen, dass spätestens das die Zeit war, in der Klettern den Weg zum Trend- oder Modesport einschlug.
Waren zu Zeiten Reinhard Karls noch die weißen Schlaghosen in oder man kletterte in (engen) Jeans oder gar in den kurzen 3-Streifen-Sporthosen der nordwandgesichtigen Firma aus Herzogenaurach, wurden Tights Mode. Am Besten aus 100% Kunststoff und in wilden Neon-Farben. Die Fotos des Jungen aus dem Wochenmagazin und die Hochglanzkletterpornos französischer Machart setzten durchgreifende modische Akzente. Jeder leicht bleichhäutige mit speckigem Oberarm ausgestattete 5er-Kletterer trug unter seinem neofarbenen Klettergurt einer französischer Schneiderei so eine augenschädigende Neon-Farb-Hose. Natürlich trug man diese Hose nicht nur beim und zum Klettern, sondern man musste seine Zugehörigkeit zu den (vermeintlich) Nordwandgesichtigen natürlich auch im Zivilleben zeigen. Gut, wenn man mit diesen augenkrebsigen Beinkleidern, den Klettergurt am Besten noch mit Karabiner behangen lässig über der einen Schulter, das Seil über der anderen Schulter abends in eine Kneipe der Heidelberger Altstadt reinrumpelte, um den nordwandgesichtigen Touren des Riesensteins einen Absacker folgen zu lassen, erregte es noch Aufsehen. Aber in den Straßenkaffees von La Palud, Apt oder Arco war dieser Unbill allgegenwärtig.
Aber zurück zu der Innovation der Herren WT:
Mag es an seiner fränkischen Herkunft liegen, mag es an der Lichtempfindlichkeit seiner Augen liegen oder mag er nur einfach sehr früh erkannt haben, was cool und was deppert ist; er hat mittels eines schwarzen Filzstiftes diese unsäglichen neongrünen Spielkartenapplikationen überpinselt. Franken trug danach schwarz, uni-schwarz, aber durchaus ein freundliches Schwarz.
Dann –das lag nicht an der Färberei des WT und auch nicht daran, dass zu dick aufgetragener Filzstift bei Feuchtelei auf die Haxenhaut durchschlug, wurde Boreal mal wieder so etwas wie der Marktführer. Mit „Ninja“ und „Laser“ wurde der damalige Olymp des Kletterschuhschneiderns bestiegen. Bis es allerdings so weit war, kam noch mal ein Unbill über die Füße des ambitionierten Kletterers der damaligen Zeit. Es gab Gerüchte! Nun ja, Gerüchte sind ja in der Fränkischen Kletterszene so was von normal, wie das markerschütternde Rumgebrülle eines bundhosigen Kletterheros nach seinem Abgang auf der halben Strecke eines zuvor lauthals und millimetergenau erklärten 6b-Flashes.
Aber diese Gerüchte waren anders; es ging nicht um das ach so sonderbare, nie dagewesen schwere Projekt, das ein englischer Kletterer im Nürnberger Reichswald eingebohrt haben soll. Es ging auch nicht um „neun 8a+, die das Kaschuwu am letzen Wochenende gerissen“ haben soll und nein, es ging auch nicht darum, dass man mittels 7 Sätzen à 100 Klimmzügen vor dem Zubettgehen mehr Kraft bekommt, als WoGü (es ist definitiv ein Gerücht). Das Gerücht ging um einen neuen Schuh. Weiche Sohle, aber kein Slipper. Perfekte Spitze, 100%-Gefühl und eine Schnürung, die den Schuh zur zweiten Haut werden lassen soll. Hersteller: Boreal.
Fast täglich führte der Weg in den Kletterladen des jeweiligen Vertrauens, um Neues über diese Wunderwaffe zu erfahren. Und wer besonders vertrauenswürdig war, bzw. den meisten Kaffee gegen Geldspende beim Überstehen eines Ruhetages in der örtlichen Kletterdealerei konsumierte, durfte „ganz im Vertrauen“ den neuen Wunderschuh ordern und hoffen, bei der ersten Zuteilung des Prototyps bedacht zu werden. Ich habe davor und danach nie wieder so ein Gedöns um einen Kletterschuh mitbekommen, wie um dieses wundersame Fußkleid. Und dann kam das Ding: Nichts anderes als mein „Ninja“ mit Schnürung. Eigentlich eine tolle Idee, hatten sich doch Kletterer mittels unglaublicher Knotenkünste mit einem ewigen Schnürsenkel an den Versuch gemacht, einen ausgelatschten „Ninja“ an den Fuß zu pinnen. Nicht nur, dass das Schuhanziehen vor DEM Versuch entgegen der Idee des Slippers „Ninja“ nicht mehr zwei Minuten, sondern 20 Minuten dauerte, bis alle Verstrickungen um den Schuh fachgerecht angelegt waren, sondern es wurden so ziemlich alle Blutgefäße nachhaltig von der Blutversorgung abgeschirmt.
Und dann halt der neue Wunderschluffen. Er war ein Wunder; bzw. es war ein Wunder, dass man mit diesen neuen, optisch so gelungenen Schuh alles machen konnte, nur Klettern war nicht im Bereich des Möglichen. Da hatten die Jungs von Boreal doch tatsächlich eine gefühlt 3cm dicke Stahlsohle zwischen Fußbett und Sohle eingeklebt. Auf der Skala der Kletterschuhhärte bekam dieser Schuh eine glatte 10, analog der Härte des Diamanten bei der Mohs´schen Härteskala für Mineralien.
Angeblich gab es einen verhängnisvollen Fehler in der Entwicklungabteilung von Boreal. Boreal –so will es die Sage- hat verschieden harte Modelle dieses neuen Wunderschuhs gebaut und an die gesponsorten Kletterer verteilt. 99,9% der Jungs und Mädels bevorzugten den weichen Schuh; gebaut wurde aber das Modell nach den Empfehlungen eines amerikanischen Risskletterers. Das sind die Jungs, denen die Hornhaut auf der Rückseite der Hände wächst und die ihren Kletteretat zu 95% mit dem Kauf von Taperollen auslasten. Diese Jungs wollten ihre Füße gleich einer Holzbohle in einen Riss rammen und hatten natürlich keinerlei Interesse, dass ein weicher Schuh ihnen etwas über die Annäherung der Sehnen und Bänder des Fußes an die Belastungsgrenze mitteilt.
So hatte halb Franken einen Schuh, mit dem man nicht Klettern konnte. Ich hatte keinen. Das war nicht meiner hellseherischen Fähigkeiten geschuldet und auch weniger meinem Misstrauen gegen Werbung und Werbegerüchte, sondern ich hatte keine Kohle, eine Vorbestellung einzugehen…
Aber auch von diesem Schuh wurde die Erfindungsgabe der Kletterer nur kurz gefordert. Gab es doch in Franken einen Klettermenschen, der nicht nur die schwersten Routen versuchte (und irgendwann auch kletterte), sondern der sich durch unglaubliche Basteleien hervortat. Da der Mensch nicht wie 90% der Kletterer dieser Dekade in Erlangen, Nürnberg oder Bamberg wohnte, sondern einige viele Kilometer entfernt, kernte er sein Auto (natürlich ein 1er Golf) aus. Bis auf den Fahrersitz alles Sitze raus, das Armaturenbrett auf der rechten Seite abgetrennt und raus gerissen, die Innenverkleidung auf den Müll und diesen zugedeckt mit dem entnommenen Bodenteppich. Dieser Mensch hatte sich wahrscheinlich recht kurzfristig einen schweren Hörschaden durch die Nutzung seines Autofragments zugezogen, aber die Kiste brauchte auf 100km glatt einen halben Liter weniger. Gewicht ist nicht nur beim Autofahren ein Energiefresser, sondern leider auch beim Klettern. Der Beweis der These, dass ein hohes Gewicht des Kletterers den Anpressdruck auf Schuhspitzen und Fingerkuppen erhöht und dadurch das Stehen auf kleinsten Tritten und das Halten winzigster Griffe (vulgo Funiere) erleichtert wird, befinden sich derzeit im Eigenversuch des Autors. [Ks.com: Heimliche Subway-Diät vor dem Training, da es zu Hause oft auch mal Rohkost gibt!]
Jedenfalls hatte oben genannter Autoentkerner auch die Gewichtsbetrachtung der Kletterausrüstung im Blick. Durchstiegsversuche an 8mm-Halbseil wegen des Seilgewichts in der Schlüsselstelle ganze 10m über dem Boden, ein der Polsterung beraubter Klettergurte, Chalkbag in Zweifingergröße und selbstverständlich eine mittels diverser Bohrungen um 0,23mg erleichterte Schnalle des Klettergurtes waren normal. Somit richtete sich die Aufmerksamkeit dieses Gewichtsoptimierers auch auf den neuen Wunderschuh. Wie auch immer er es geschafft hat, er hat die Sohle von der Zwischensohle getrennt und diese nicht nur in seinen Augen unbeugsame Einlage entfernt. Sohle wieder drauf geklebt, sich über die danach nicht mehr vorhanden Passform ein wenig gewundert und fertig war der Leichtschuh. O.K. ein paar Ausstanzungen im Leder wurden wahrscheinlich auch noch angebracht.
Jetzt gab es EINEN Wunderschuh in Franken, aber plötzlich viele Kletterer, die mit dem Handfäustel auf ihren neuen Wunderschuh einschlugen, um ihn wie ein Schnitzel weich zu bekommen. Ob es gelungen ist, habe ich nicht mehr genau raus bekommen, denn Boreal lieferte in kurzer Zeit den tatsächlichen Wunderschuh: Der „Laser“ war auf dem Markt und mittels der WT-lichen Schwarzstiftfärbung wurde er auch bald durch Abdecken der homoerotisch-rosanen Applikationen in ein optisch würdiges Aussehen gebracht.
Hier könne die Geschichte des Kletterschuhs enden. Mit „Ninja“ und „Laser“ blieben damals keine Wünsche nach einer Verbesserung des Kletterschuhs offen.
Aber so ganz glauben wollte man das natürlich nicht und Konkurrenten von Boreal unterstützten diesen (Irr-)Glauben. So bekam ich mal von einem Vertreter einen neuen One-Sport geschenkt. Weiterhin ein unkletterbares Brett, aber hilfreich zur Schonung des Kletteretats. Ich benutze diesen Unfall der Kletterschuhentwicklung bzw. die linke Hälfte davon, um bei meinen zahlreichen Versuchen in einer etwas schwereren Route meine „guten Schuhe“ nicht in einem Fußklemmer zu zerfetzen.
Und es fand auch noch einmal ein etwas älterer La Sportiva seinen Weg in meinen Kletterrucksack. Ein Schuh, der eigentlich nicht besonders gut war und den ich erst einigermaßen benutzen könnte, nachdem ich in der Werkstatt mit der Flex so 2mm der Sohle runtergeschliffen -bzw. richtiger runtergestunken- hatte. Der Schuh war einfach bequem und zum winterlichen Bouldern an der Klagemauer wahrscheinlich nicht perfekt aber wenigstens war das Rumstehen auf eisigem Boden im Vor-Crashpad-Zeitalter damit zum gerade noch Aushalten. Was hab ich diesen Schuh gequält und gepflegt; war es doch der einzige Schuh, mit dem ich den Hook beim Kreuzug der legendären „Kombination“ an der Klagemauer hin bekommen habe. Das die „Kombination“ zumindest für mich nicht ganz einfach war, zeigt sich daran, dass ich den Schuh erst nach der dritten (!) Wiederbesohlung in die Tonne werfen konnte, nachdem ich irgendwann mal an der Leiste der „Kombination“ hängen geblieben bin.
Überhaupt die Klagemauer:
DAS Schuhsohlenstestgebiet überhaupt. Wurden noch zu Zeiten des WoGü die Sohlen in einer geheimen Prozedur in der 4. Vollmondnacht nach der Sonnenwende von einer Einäugen mit einer fetten Warze auf der Nase (ob sie Jungfrau war, ist nicht überliefert; der Beschreibung nach aber wahrscheinlich) auf dem 3. Nebengipfel eines geheimen Pyrenäenberges angerührt, bestehen heutige Schuhsohlen aus wirren Buchstabenkombinationen vom Ende des Alphabetes, haben Weltraumtechnologie und ein „bisschen Nano“ ist auch noch drin…
Wenn man also den Schuh mit der „XZYvX-Humbstibumsti-NASA-Nano-Sohle“ mal richtig testen will, sei der Aufhocker auf dem „Techniks-Band“ beim Start von „Hurrican“ angeraten. Schnalzt der Huf weg und die Kniescheibe zerbirst am „Techniks-Band“ gibt es nur 2 Möglichkeiten: Entweder man sollte Hangeln (die sog. WoGü-Methode) oder man sollte sich mal nach einer Sohle der einäugigen Vermutlichjungfrau umschauen.
Fortsetzung folgt…