Wie funktioniert der Wettkampfroutenbau? Im Gespräch mit Dirk Uhlig
Der Routenbau hat viele unterschiedliche Facetten. In den kommerziellen Hallen muss er dem Geschmack und Können der Freizeitboulderer- und kletterer entsprechen, bei den Wettkämpfen dagegen stehen die Routenbauer vor ganz anderen Herausforderungen. Dort müssen die Boulder und Routen selektiv geschraubt sein, gleichzeitig aber so, dass ein breites Spektrum abgefragt wird – und für die Zuschauer muss es natürlich auch noch spannend sein. Im Teil 1 einer neuen Serie bei Ks.com, die sich mit dem Routenbau beschäftigt, sprachen wir mit Dirk Uhlig über den Wettkampfroutenbau. Dirk ist nicht nur internationaler Schrauber, sondern auch einer von zwei Geschäftsführern der Boulderhalle E4 in Nürnberg.
Die Anforderungen an die Routenbauer sind hoch, allen Ansprüchen werden sie aber wohl nie genügen können. Über Dirk Uhlig brach vor einigen Wochen direkt nach der Deutschen Meisterschaft Bouldern in Augsburg, bei der er der Chefroutenschrauber war, ein Shitstorm herein. Er wurde von einem Athleten auf Instagram heftig kritisiert: Die Boulder seien „Zirkusnummern und scheiße“ gewesen, hieß es in dessen Post.
Ks.com: Dirk, was sagst du jetzt mit einiger zeitlichen Distanz zu den Vorwürfen?
Dirk Uhlig: Ich fand es ziemlich unglücklich, was der junge Mann da gemacht hat. Nach seinem schlechten Abschneiden war er sichtlich sauer und hat die Fehler bei den Bouldern gesucht. Seine Leistung über das Wochenende war aber nicht konstant, und mit der Vorstellung kann man kein deutscher Meister werden. Die anderen waren definitiv besser in Form. Er war auch im Finale nicht der komplette Kletterer, und als Profikletterer muss man das nehmen, was kommt. Da kann man sich nicht schon während des Wettkampfes aufregen, vor allem nicht, wenn andere die Boulder schaffen.
Da kann man sich nicht schon während des Wettkampfes aufregen, vor allem nicht, wenn andere die Boulder schaffen. Es ist nicht meine Aufgabe, die Stärken einzelner Athleten in Szene zu setzen. Unser Anliegen ist, die Athleten bei den nationalen auf die internationalen Wettkämpfe vorzubereiten. Wenn dort der moderne Style geschraubt wird, dann können wir hier – auf nationaler Ebene – nicht nur old-school, sondern müssen auch new-school schrauben.
Seit wann schraubst du Wettkämpfe? Und wie wird man Routenbauer?
Ich habe mit dem Schrauben vor 20 Jahren angefangen und vor 19 Jahren meinen ersten Wettkampf – die Thüringer Meisterschaft – geschraubt. Seit 2006 bin ich bei den Deutschen Meisterschaften dabei und seit sieben Jahren bei den internationalen. Im Jahr sind es bis zu 30 Wettkämpfe und Lehrgänge für den Bundeskader und für internationale Teams, bei denen ich die Boulder schraube und Simulationen organisiere. Eine Ausbildung zum Routenbauer gibt es aber nicht – und das finde ich sehr schade. Das Handwerk sollte eigentlich gelernt werden. Vom Deutschen Alpenverein gibt es zwar Basic-Angebote, aber die sind definitiv nicht ausreichend. Das Handwerkliche muss man sich autodidaktisch beibringen. Ich schaue mir beispielsweise immer viele Klettervideos an und ich klettere selber viel. Das muss man dann natürlich noch umsetzen und an die Wand bringen. Das Essentielle aber, die Kreativität, muss man selber beisteuern. Die hat man, oder hat man nicht.
Auf was muss man beim Wettkampfroutenbau alles achten?
Es gibt sehr viele, verschiedene Kriterien. Wir müssen mit den vier Bouldern einen Spannungsbogen erzeugen. Der erste ist beispielsweise da, damit die Athleten in den Wettkampf reinkommen, der zweite und dritte, um Ergebnisse zu generieren. Die sind also selektiv. Und der letzte sollte dann wieder etwas leichter sein, damit alle nochmal Vollgas geben und die Stimmung nochmal steigt. Daneben spielt natürlich auch die Wandstruktur eine Rolle, die ist in Augsburg beispielsweise relativ flach. Da war es dann wichtig, die Platten schneller zu machen und koordinative Sachen einzubauen.
Und dann ist immer die Frage, welches Griffsortiment man bekommt. Die auffälligen und coolen Griffe gehen dann meistens ins Halbfinale und Finale und die weniger guten in die Quali. Es kann aber auch passieren, dass nach drei Tagen alles fertig ist und man erst dann sieht, dass ein Boulder des Halbfinales viel zu gut ist und ins Finale kommen muss. Dann wird der Plan wieder geändert. Das ist dann auch die eigentliche Aufgabe des Chefschraubers: die Planung zu übernehmen, den Überblick zu behalten und die Regie zu führen.
Und wie wichtig ist die Optik der Boulder?
Es soll eine Geschichte aufgebaut werden, gleichzeitig sollen die Boulder ansprechend sein und Spannungsmomente kreiert werden. Dazu gehört beispielsweise, dass ein Problem von den Athleten auf verschiedene Weise geklettert werden kann – wenn alle immer die gleiche Beta bieten, wird es für den Zuschauer schnell langweilig. Solche Sachen muss man als Schrauber im Hinterkopf haben. Spektakuläre Züge oder Sprünge gehören gerade international auch dazu, das ist dort Standard.
Wie läuft die Planung?
Normalerweise kennt man den Veranstaltungsort und weiß, was man schrauben kann. Dann ist die Frage, wer die Mitschrauber sind und welche Styles die vor allem schrauben. Wenn jeder einen ähnlichen Style hat, zum beispielsweise Platten liebt, dann wird es vor allem Platten geben – und das möchte man natürlich nicht. In der Vorbesprechung wird deswegen festgelegt, wer was schraubt und welcher Wandteil dafür am besten geeignet ist. Abhängig ist das natürlich auch davon, wie viel Platz auf der Wand ist. Und wir müssen schauen, wo Sturzräume sind, damit sich die Athleten nicht verletzen können.
Wichtig ist es auch, einen Blick ins Reglement zu werfen, um zu wissen, wie lange die Umbauzeit zwischen den Runden ist. Volumen beispielsweise sind viel zeitintensiver zu schrauben, die wird man bei sehr kurzen Zeiten also eher nur sparsam hernehmen. Als Chefschrauber bist du viel mit der Logistik beschäftigt, die anderen erledigen die kreative Arbeit. Die sind dann in einem Tunnel, um sich auf die Boulder konzentrieren zu können. Der Chefschrauber dagegen ist dafür verantwortlich, dass das Gesamtbild passt.
Wird während des Wettkampfes dann noch modifiziert? Wenn du dir beispielsweise die Quali angeguckt hast und dir denkst, ups, die sind ja heute nicht so gut drauf…
Ja, wir halten dafür Zusatzgriffe und –tritte bereit. Ob wir etwas verändern, wird dann aber spontan entschieden. Tendenziell ist es so, dass das Finale zumeist ein bisschen leichter als das Halbfinale geschraubt ist. Es gibt Athleten, die brillieren vor Publikum, andere dagegen performen vor vielen Leuten nicht mehr so gut, die lassen sich da beeinflussen und können nicht ihre volle Leistung bringen. Die sollen aber nicht untergehen, deshalb ist die Finalrunde einen Tick leichter. Im Idealfall ist es so, dass die Schrauber die Kletterer und ihr aktuelles Niveau kennen und sich daran orientieren. Im deutschen Schrauberteam sind nur professionelle Schrauber, die haben viel Kontakt zu den Athleten und treffen es relativ gut. Am schwierigsten für uns ist immer der erste Wettkampf nach der Winterpause, da kann man nämlich die Athleten noch nicht wirklich einschätzen.
Hat jeder Schrauber einen charakteristischen Stil? Oder sollte man bestenfalls gar nicht wissen, ob die Boulder von dir oder jemand anders sind…
Also einen guten Schrauber erkennt man irgendwann nicht mehr. Ziel ist ja auch, vier Boulder mit vier verschiedenen Styles zu haben. Ich kenne die Fähigkeiten der Schrauber. Wenn du beispielsweise jemanden mit viel Fingerstrom hast, dann muss man das im Auge behalten und von außen einschätzen, ob der Boulder dann nicht zu schwer wird. Man muss ja auch immer bedenken, dass die Athleten im Wettkampf für jeden Boulder nur vier Minuten Zeit haben, ein Boulder sollte also in der Regel nicht zu schwer sein. Im Wettkampf hat man ja nur ein paar Versuche, um etwas auszuprobieren und zu lernen.
Was sind die Unterschiede beim Schrauben von internationalen und nationalen Wettkämpfen?
Der größte Unterschied ist das Niveau. Bei Weltcups sind die Quali-Boulder schon viel schwerer als alle Boulder bei der Deutschen Meisterschaft. Das Können der Athleten schwankt auch sehr im Laufe der Saison. Sie haben immer Aufbauphasen und Peakphasen über das ganze Jahr hinweg verteilt. Für die Schrauber ist das kein leichter Job. Wir haben etwa fünf Arbeitstage mit jeweils 15 Stunden. Das bedeutet, dass man sich seine Kraft gut einteilen muss, um auch noch am letzten Tag ausprobieren zu können, ob ein Boulder zu leicht oder zu schwer ist. Wir müssen also so wenig wie möglich am Limit klettern, um durchzuhalten und dürfen uns nicht schon am ersten Tag platt machen. Die Fitness von Routenbauer ist auch essentiell.
Holst du dir Feedback? Von Trainern oder auch Athleten?
Ich bin Techniktrainer beim Deutschen Alpenverein und schraube deshalb auch bei den Lehrgängen und bekomme natürlich mit, wie die Athleten mit den Bouldern zurechtkommen. Feedback, ob es passt, bekomme ich auch vom Bundestrainer Urs Stöcker. Von ihm kommen Infos, in welcher Verfassung sich die Kletterer befinden und eine neutrale Meinung über ihren Leistungsstand. Bei den Athleten ist es so, dass sie die Boulder, wenn sie gewinnen, gut finden – und wenn es für sie nicht optimal läuft, dann waren die Boulder schuld… dann gibt’s halt Kritik.
Das ist dann kritisch zu hinterfragen und sollte beim nächsten Wettkampf besser laufen. Wir schreiben Wettkampfberichte nach jedem Wettkampf, um Fehler auszuwerten und um uns zu verbessern. Der Größenunterschied zwischen Kim Marschner und Chris Schweiger beispielsweise ist enorm, das ist ein Reichweiten-Unterschied von 40 Zentimetern. Da kann ein Boulder schnell mal schwieriger für den einen oder anderen werden. Am Ende aber sollen alle Runden fair werden und jeder eine Chance auf den Sieg haben
Corona ist nach wie vor groß Thema, die Saison war keine richtige und wie es weitergeht, weiß man nicht. Welche Konsequenzen hat das für dich als professionellen Schrauber?
Die internationalen Wettkämpfe sind bis auf den einen Lead-Weltcup in Briancon ausgefallen. Das bedeutet natürlich einen ziemlichen finanziellen Verlust. Ich konnte zwar noch in Innsbruck bei den Austria Climbing Summer Series schrauben und bei noch ein paar anderen internationalen Wettkämpfen, aber das kann man an einer Hand abzählen. Wenn das jetzt noch ein Jahr so weitergeht und wir coronabedingt keine Wettkämpfe haben werden, dann werden wir die Hälfte der professionellen Schrauber verlieren, die werden das nicht überleben. Abgesehen davon war es aber auch bei den Wettkämpfen in diesem Jahr, die ohne Zuschauer stattfinden mussten, nicht so prickelnd. Die Show fehlt einfach, das verliert total an Stimmung ohne Publikum. Vielleicht sollte man Wettkämpfe besser einfach so lange aussetzen, bis wieder halbwegs normale Veranstaltungen möglich sind.