Weltcup Athlet*innen vs. Routsetting

Ist es möglich, den Routenbau in eine neue Dimension zu bringen? 

Was bedeutet das für alle Beteiligten des Wettkampfkletterns?

Auf internationaler Ebene werden seit mittlerweile über dreißig Jahren Routen für Wettkämpfe geschraubt. Bis auf kurzzeitige Versuche mit Abwärts-Sprüngen, die aufgrund des hohen Verletzungsrisikos jedoch wieder verboten wurden, ging es für die Teilnehmenden damals wie heute in der Regel immer irgendwie von unten nach oben.
Hat man allerdings vor einigen Jahren zu riskant erscheinende Bewegungen wie Down-Jumps noch kategorisch aus dem Wettkampfroutenbau ausgeschlossen, ist es aktuell genau das Thema, das in Kletterwettkämpfen hauptsächlich abgefragt wird: Die Risikobereitschaft der Athletinnen und Athleten.

KIKUCHI Saki - 2022 IFSC World Cup in Innsbruck - Kletterszene

Durch unsichere, unbequeme Positionen, die intuitive Entscheidungen noch während des Bewegungsablaufs erfordern, werden diese Moves für diejenigen, die sie ausführen müssen immer unkontrollierbarer.
Aus einer unsicheren Bewegung heraus in einen Position zu kommen, die maximale Kontrolle erfordert, birgt ein kaum zu ignorierendes Verletzungsrisiko.

Zwar hat sich die Trainingsinfrastruktur in den vergangen Jahren enorm entwickelt und damit insgesamt für eine extreme Leistungssteigerung und Erweiterung des Bewegungsspektrums der Sportler*innen gesorgt, das Verletzungsrisiko – vor allem unter dem Druck sich vor Publikum zu messen – ist dadurch allerdings nicht geringer geworden.


Lag der Focus des Trainings im Leistungsklettern früher hauptsächlich auf Aufbau von Ausdauer, Maximalkraft und Beweglichkeit, hat heute der Anteil der Trainingselemente, die der speziellen Verletzungsprävention dienen ebenfalls zugenommen.

Um sich abgesehen davon nun der Antwort auf die Frage zu nähern, wo denn grundsätzlich die Grenzen des Machbaren liegen, hat Manuel Hassler Eigentümer des Griffeherstellers Flathold und selbst Routenbauer, die Ausnahmeathletin Janja Garnbret, den Spitzenathleten Yoshiyuki Ogata, eine Gruppe von Routenbauern und eine Routenbauerin eingeladen, mit außergewöhnlichen Bewegung zu experimentieren.

Die Idee: Eine entspannte Spielwiese abseits der Hektik des Wettkampfs zu schaffen, um in Zusammenarbeit mit zwei sehr erfahrenen Klettersportler*innen die Limits des Möglichen auszuloten.
Denn während des Wettkampfgeschehens ist die Zeit, die zur Verfügung steht, um neue Bewegungen zu testen, sehr begrenzt und der Druck groß. In der Regel treffen Routesetter*innen sehr schnelle Entscheidungen mit dem Ziel, ein möglichst eindeutiges Ranking zu erreichen und eine beeindruckende Show zu bieten.
Eine enorm herausfordernde Aufgabe, denn die Liste der zu berücksichtigenden Punkte ist lang, und längst nicht alle Faktoren sind kalkulierbar.
Welche Athlet*innen erreichen das Finale? Worauf sind diese besonders spezialisiert und was liegt ihnen überhaupt nicht? Wie ist ihre Tagesform?

Janja Garnbret Klettern Olympia

Wie viel Erholung ist zwischen den jeweiligen Runden möglich und welches zu erwartende Energielevel resultiert daraus? Spielen Wetterbedingte Faktoren wie beispielsweise eine sehr hohe Luftfeuchtigkeit eine Rolle? Könnten sich gleichzeitig Kletternde gegenseitig verletzen? Selektieren die Routen differenziert genug um eine eindeutige Rangfolge zu ergeben? Wird das Publikum Spaß haben?


Das sind nur einige der Fragen, die sich stellen, ganz abgesehen von den elementarsten, wie: Ist alles gründlich fixiert und sind die Routen grundsätzlich überhaupt kletterbar?

Im von Flathold produzierten Video zu diesem Routenbauexperiment, setzen Pierre Broyer, Katja Vidmar, Gen Hirashima und Manuel selbst, im Austausch mit Janja und Yoshiyuki drei extrem komplexe Bewegungen fordernde Boulder. Von ersten, teils cheatbaren Entwürfen, bis hin zur finalen Linie, gewinnt man seltene Einblicke in den Prozess der Ideenfindung beim Routenbau im Leistungssport. 

Doch auch die Zeiten, in denen komplexe dynamische Züge ausschließlich beim Bouldern zu sehen waren, sind vorbei. Mittlerweile finden sich in Lead-Routen ebenfalls Elemente wie Sprünge, Weiterleiter, Toe-Hook-Catches oder ein Run-and-Jump-Move in den Start.

Die Meinungen gegenüber dieser Entwicklung sind sowohl unter den Athlet*innen als auch in der weiteren Kletterszene kontrovers.
Sehen sie die einen als unvermeidliche, innovative Weiterentwicklung, als das Sprengen von Grenzen des Machbaren und Ausdruck eines Generationenwechsels, halten sie andere wiederum eher für eine Art Zelebrieren eines Kampfs der Gladiatoren zur Sensationsbefriedigung des Publikums, der Veranstalter und der Sponsoren. Zwischentöne gibt es reichlich.

In einer, vom Generieren spektakulärer Bildern und Marketing dominierten Zeit, könnte man Letzteres als eine nahezu unvermeidliche Folge des Schrittes einer Sportart ins ganz große Rampenlicht verstehen.
2021 feierte das Klettern sein olympisches Debüt auf der medialen Weltbühne.
Vor nicht einmal zwei Jahrzehnten noch ein Nischensport, erlebt es vor allem in den über die Zeit stetig neu entstandenen Boulderhallen einen enormen Zulauf. Der Einstieg in den Klettersport ist hier vermeintlich niederschwellig, auf hohem Niveau sind die einzelnen Bewegungen dieser Disziplin allerdings häufig die komplexesten des menschlich Möglichen.
Gleichzeitig bieten die athletischen, kurzen Linien an wenigen Meter hohen Wänden auch die Möglichkeit, die Sportler*innen in die eindrucksvollsten Bewegungen zu motivieren.

Zweifelsohne bringt der Routenbau damit Spannung in den Sport.
Zum einen die kontroverse Debatte darüber, welches Maß an Risiko denn nun angemessen sei, zum anderen aber auch diejenige Art von Spannung, die Zuschauern und den Mitwirkenden auch einfach Spaß am Sport und Mitfiebern macht. 

Eben genau diese Balance, zwischen negativem und positivem, Begeisterung schaffenden Risiko, gilt es nun zu finden.
Den Austausch darüber zwischen Athlet*innen, Routenbauer*innen, aber auch Trainer*innen zu fördern, ist ein erster Schritt in diese Richtung, damit unser Sport auch auf der großen Weltbühne weiterhin den Spirit verbreiten kann, den wir an ihm so sehr schätzen.

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Video-Link: https://www.youtube.com/watch?v=4NPDprxKAWo
  • Credits Text Hanna Rexer f. kletterszene.com
  • Credits Fotos Ks.com/ Archiv, IFSC, IOC,
  • Beitragsdatum 8. Mai 2023