Hansjörg Auer durchsteigt "Vogelfrei (8b/8b+|400m)" als Erster frei
Hansjörg Auer konnte im August 2009 die Route „Vogelfrei“ mit ihren 14 Seillängen an der Schüsselkarspitze im Wetterstein als Erster in allen Seillängen rotpunkten. Hierzu schreibt Hansjörg:
Und wieder hänge ich im Seil, betrachte meine wunden Fingerkuppen und dann die kleinen, scharfen Griffe. Diese letzte, schwierige Seillänge strapaziert meine Nerven und bringt meinen normalerweise starken Durchstiegswillen ins Schwanken. Es sind nicht viele Meter, doch die werden über Erfolg oder Misserfolg entscheiden. Mein Bruder Vitus hängt am Stand. Erstaunlich, welch geduldiger Mensch er ist. Schon seit ein zwei Stunden baumelt er in der glatten Wand. Doch begonnen hat das Abenteuer „Vogelfrei“ schon vor 12 Jahren.
Michi Wärthl, Tom Dauer und Chris Semmel richten an verschiedenen Tagen, verteilt auf September bis November 1997, eine neue Linie mitten durch den steilsten und höchsten Teil der Schüsselkarspitze Südwand ein. „Vogelfrei“ taufen sie ihre neue Erstbegehung. Während sie im unteren Teil, der immerhin Schwierigkeiten bis 8a bietet, jede Länge punkten, fehlt ihnen ganz oben das nötige Etwas. Zudem zehrt das Projekt natürlich an der Motivation und sie geben die Route frei. Immer wieder taucht diese Route in meinem Kopf auf und im August 2009 soll es so weit sein. Ein erster Versuch bis zur 11. Seillänge zeigt mir die Schönheit, aber zugleich auch die Schwierigkeit der Route auf. Ich bleibe dran.
Einige Tage später sind wir wieder im Schüsselkar. Dieses Mal mit Portaledge und jeder Menge neuer Motivation. Am ersten Tag möchte ich so viele Seillängen wie möglich punkten und eventuell noch die Crux-Länge etwas putzen. Es läuft gut. Alle Seillängen kann ich auf Anhieb klettern. Nach einem ersten etwas leichteren Teil kommt die erste Hürde. Ein wunderschöne und lange Seillänge im Grad 7c. Dann geht es wieder etwas gemütlicher weiter bevor es wirklich ernst wird. Es folgen drei Längen mit der Bewertung 8a, 7a+ und neuerlich 8a. Es sind nun vielmehr schwierige Einzelstellen als ausdauernde Passagen. Es geht alles glatt. Auch die dynamische Passage in der zweiten 8a-Länge gelingt mir sofort. Wir erreichen den Quergang – drei Längen trennen uns noch vom Gipfel. Ein Blick auf die Uhr. Es ist schon spät, aber wir wollen mittels des Quergangs doch noch hinüber zum großen „Fragezeichen“ der Route. Ich bin schon gespannt wie sie aussieht, diese letzte schwierige Seillänge. 30 Meter geht es fast waagrecht nach rechts. Ich erreiche den Stand. Mein Bruder kommt nach. Mit der Bürste putze ich die weiteren Griffe. Wie scharf und klein sie sind. Doch sie müssen ausreichen. Irgendwie schaut die Passage nicht so schwer aus. Doch beim Ausbouldern, entpuppt sich diese Länge als doch recht knifflig. Ich kann alle Züge klettern. Doch wie so oft, liegt das Problem dazwischen. Mittlerweile ist es fast dunkel. Wir müssen zurück, das Portaledge bauen wir am Beginn vom Quergang auf. Endlich haben wir es geschafft und in Ruhe können wir unseren leeren Mägen stillen. Gute Nacht.
Am nächsten Morgen dann die Ernüchterung. Am letzten Hemd kann ich die Einzelzüge mit Ach und Krach wieder aus der Erinnerung holen. Das gibt es doch nicht. Nur nicht schwächen. Die Nerven sind gespannt. Bei jedem Versuch verliere ich die so wertvolle Haut an den Fingerkuppen. War der ganze Aufwand umsonst? Ich mache etwas länger Pause. Nach einer knappen Stunde gebe ich noch einmal Vollgas. Voll konzentriert klettere ich vom Stand weg. Mit links knüpple ich die kleine Leiste her, stelle den Fuß hoch und schiebe meinen Körper nach rechts. Doch diesmal bleibe ich irgendwie an der Wand kleben. Ich kann das große Loch halten, werde aber plötzlich brutal nervös. Kurz durchatmen und ruhig bleiben, auf Untergriff umsetzen, Spannung halten, links kurz den Seituntergriff nehmen und? Ich treffe das Einfingerloch nicht. Verdammt, so knapp am Durchstieg vorbei, es ist zum Kotzen. Der linke Zeigefinger hat schon fast ein Cut. Ein einziger Versuch wird noch möglich sein, dann wird das Blut spritzen. Wir klettern zum Gipfel. Dort treffen wir auf Heiko und Matthias.
Er möchte eine kleine Fotosession machen. Und ich? Ich will mich nicht geschlagen geben. Ein letzter Versuch soll mir Gewissheit geben. Die Sonne verschwindet schon fast hinter dem Westgratturm, eine leichte Brise kommt auf, es ist etwas kühler geworden. Die Bedingungen scheinen perfekt zu sein. Ein kurzer Blick nach oben – los geht´s. Komplett im Flow und nach einem ziemlichen Fight, immer an der Grenze des „Nachhintenkippens“, „wache“ ich erst auf, als ich den abschließenden Henkel in der Hand habe. Die Anfeuerungsrufe meiner Freunde haben mich förmlich hinaufgetragen. Ich lasse mit einem unheimlichen Schrei, der durch das gesamte Puittal hallt, meiner Freude freien Lauf. Zusammen haben wir es geschafft. Das Langzeitprojekt „Vogelfrei“ (8b/8b+) ist frei …
Facts zu Vogelfrei
- Location: Schüsselkarspitze Südwand – Wettersteingebirge/Tirol
- Route: Vogelfrei
- Länge: 14 Seillängen
- Wandhöhe: 400m
- Schwierigkeit: 8b/8b+
- Absicherung: Bohrhaken
- Material: 60m Seile, kleines Sortiment Cams bis #1
- Erstbegeher: Michi Wärthl, Tom Dauer und Chris Semmel 1997
- 1. Rotpunkt: Hansjörg Auer, gesichert von seinem Bruder Vitus 2009
- Abstieg: Abseilen über die Route
Sponsoren: Vaude, edelrid, La Sportiva, bergshop.com, Ötztal
Web: www.team-alpin.at
Text: Hansjörg Auer und kletterszene.com / Fotos: (c) Heiko Wilhelm