Osteopathie zum Selbermachen
Viele Leute die klettern kennen das Problem, dass eine bestimmte Schwachstelle des Körpers immer wieder der steigenden Leistung nicht standhält. Stets wiederkehrende Schulter-, Rücken- oder anderweitige Probleme können die steigende Performance wiederholt eindämmen. Teilweise haben die Sportler:innen schon unzählige Ärzt:innen konsultiert und kurzfristig ihre Probleme in den Griff bekommen, doch eine dauerhafte Lösung scheint es in manchen Fällen nicht zu geben. Deshalb haben wir Rainer Zistl (45) getroffen, der diesbezüglich einen anderen, sehr spannenden Ansatz verfolgt, den wir euch heute vorstellen wollen:
Rainer klettert und bouldert seit 15 Jahren leidenschaftlich gerne, früher war er selbst Leistungssportler: 2000 holte er sich als Judoka sogar den deutschen Vizemeistertitel, danach betreute er viele Jahre lang als Bundesligatrainer Nachwuchstalente.

Ich selber bin bislang relativ gut und verletzungsfrei durchgerutscht. Aber gerade bei seinen Schützlingen habe er immer wieder erlebt, was eine Verletzung oder ein Unfall bedeuten kann. Er hat sich in den vergangenen Jahren autodidaktisch viel Wissen angeeignet, neben seinem Job als Lehrer betreut der Sportwissenschaftler in seinem Trainings- und Therapiezentrum VITAGO in Moosburg seit zehn Jahren verschiedene Sportler:innen, auch viele Kletter:innen kommen mittlerweile zu ihm.
sagt Rainer.
Rainer, welche Beschwerden haben denn Kletterer vor allem?
Die meisten kommen mit Schulterproblemen, mit Nacken- und Rückenschmerzen. Boulder:innen kommen häufig auch wegen ihrer Sprunggelenke beziehungsweise mit Knieproblemen.
Haben die meisten schon eine lange Ärzte-und-Physio-Odyssee hinter sich?
Ja, bei vielen ist es tatsächlich so. Die waren wochen- oder auch monatelang in Behandlung, aber ihnen geht es nicht wirklich besser. Das liegt daran, dass bei der gängigen Therapie nur der logische, der lokale Punkt behandelt wird. Und man dadurch das Problem nicht gelöst bekommt. Bei Schulterproblemen beispielsweise werden ja zumeist die Außenrotationsübungen mit Theraband empfohlen, das ist gängige Methode. Die helfen aber meist nur im Anfangsstadium. Die Schulmedizin versteht nicht, warum ein Problem da ist – sie sieht nur, dass eins da ist. Und dann wird dieses Problem analog zu dem, was die Kassen bezahlen, behandelt.
Wie schaut dein Ansatz aus?
Bei mir geht es darum zu erkennen, weshalb die Schulter entzündet, gereizt und schmerzhaft ist und nicht funktioniert. Dann versuche ich, die Rahmenbedingungen für die Schulter oder die Gelenke zu verbessern. Denn die Schulter muss ausbaden, wenn Rahmenbedingungen – wie beispielsweise die Rippen- und Beckenpositionen -nicht passen. Die Ursachen für die Beschwerden können in ganz anderen Körperbereichen versteckt sein, die Schulter ist es dann aber, die letztendlich darunter zu leiden hat. Daran muss gearbeitet werden, die alten Muster müssen verändert werden.
Erinnert an die Osteopathie: Keine Behandlung von vordergründigen Symptomen…
Mein Ansatz ist ein interdisziplinärer – unter anderem spielen die Neurologie, Sportwissenschaften aber vor allem auch die Osteopathie eine Rolle. Mein Konzept ist, dass sich der Kletterer nur selber helfen kann, er muss es schaffen, mit dem Gehirn seinen Körper, der lange Zeit auf falsche Weise benutzt wurde, neu zu programmieren, wie schon gesagt: alte Muster müssen verändert werden. Rahmenbedingungen verbessern, kannst aber nur du selber tun. „Osteopathie zum Selbermachen“ trifft vielleicht am besten, was ich anbiete.
Wie wichtig ist dabei die Atmung?
Wir Menschen müssen gegen die Schwerkraft bestehen, als Kletter:in sogar noch mehr… es hat schon einen Grund, dass Kurt Albert sein Buch „Fight Gravity“ benannt hat. Die wenigstens Menschen atmen richtig, das haben wir verlernt. Richtige Atmung ist aber immens wichtig, um der Schwerkraft entgegenwirken zu können – gerade auch beim Klettern.

Wenn du die innere Kraftatmung dreidimensional hinkriegst, dann kann die Atmung einen Puffer bilden. Kompressionszüge beispielsweise bilden dann nicht mehr so hohe Kräfte auf das Gewebe, da die Grundspannung im Körper bei einer guten Atmung geringer ist.
Erzähl doch mal, was bei dir passiert.
Beim ersten Termin gibt es eine 60-minütige Testung. Ich sehe, wie er oder sie vor mir steht, beobachte die Bewegungen und sehe, welche Strategie gegen die Schwerkraft angewandt wird. Dann höre ich mir die Historie an, um rauszufinden, in welcher Phase er oder sie steckt. Danach werden die Gelenke durchgetestet. Um zu sehen, welche Optionen er oder sie noch hat – und welche wieder erarbeitet werden müssen. Danach überlege ich mir eine sinnvolle Strategie mit Übungen, die ich dann ihm oder ihr in einer weiteren Stunde zeige und erkläre. In regelmäßigen Abständen wird schließlich kontrolliert, ob die Übungen richtig gemacht werden und ob es besser geht. Das Feedback ist wichtig.
Bist du erfolgreich?
Na ja, die Kletter:innen, die zu mir kamen, klettern alle noch immer (lacht). Urs Stöcker, der frühere Bundestrainer des deutschen Kaders, war übrigens auch einige Wochen vor den Olympischen Spielen in Tokio 2021 bei mir. Er hatte damals tierische Rückenschmerzen und hatte Angst, den langen Flug nicht zu packen. Er war dann aber wieder relativ schnell schmerzfrei und voller Energie. Für ihn war das noch ein halbes Jahr zuvor undenkbar gewesen. Wir können mit unserem Konzept sicher einige OPs vermeiden – aber nicht alle, wenn alles in einem schon zu fortgeschrittenen Stadium ist. Fakt ist aber auch: wenn wir mit der Schulter nach einer OP weiterhin so umgehen wie zuvor, werden wir langfristig wieder Beschwerden haben.
Dein Konzept ist ein sehr neues, noch nicht sehr bekanntes?

Ja, das ist momentan noch in einer Entwicklung. Meine Mentoren sind meistens in den USA. Es ist ein interdisziplinärer Ansatz, den ein paar wenige in Europa und Deutschland leben und weiterdenken. Unter uns sind sowohl Orthopäden, Osteopathen als auch Heilpraktiker und Sportwissenschaftler. Wir sind im regen Austausch und wollen noch besser werden. Aber die 08/15-Behandlung von Ärzt:innen und Physios geht in die falsche Richtung. Wir dagegen entfernen uns von der schulmedizinischen Totenanatomie. Der Kletterer bewegt sich ja, der Bewegungsstil ist drei- bis vierdimensional. Die Übungen, die jemand mit Schulterbeschwerden machen soll – ich bin jetzt wieder bei der Außenrotation – ist vielleicht eine Warmmachübung. Aber nicht als therapeutische Übung geeignet, denn so wie bei der Übung funktioniert der Muskel ja nicht beim Klettern. Es geht nicht um die beste Methode beziehungsweise Übung, sondern darum die Prinzipien zu verstehen, weshalb ein Körper nicht funktionieren kann. Anhand dieser Erkenntnisse kann ich dann verschiedene Methoden anwenden.
Bislang übernehmen die Kassen aber nicht die Kosten für deine Therapie, oder?
Nein, das ist keine Kassenleistung, das muss jeder selber zahlen. Um zur Kassenleistung zu werden, müssten evidenzbasierende Ergebnisse der Therapie vorliegen. Dafür habe ich aber weder das Geld noch die Zeit… und bis es so weit wäre, bin ich in Rente (lacht). Durch diese Herangehensweise verspielt die Schulmedizin die Chance, neue erfolgreiche Therapieansätze zu etablieren und ist deshalb noch immer mit denen von 1980 unterwegs. Letztendlich aber entlaste ich das Gesundheitssystem schon heute – und zeige dessen Schwäche auf. OPs können verhindert werden und alleine das spart sehr viel Geld. Ich habe mir mein Wissen autodidaktisch angeeignet und inzwischen viel Erfahrung – und ich bin erfolgreich mit dem, was ich mache.
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