Die metaphysischen Gesetze des Klettersports oder warum man nicht abhebt

Es gibt so Prinzipien im Leben, in der Philosophie, in der Naturwissenschaft und natürlich im Kletterraum.

Da ist das Prinzip vom Verbrauch der Energie. Das Prinzip ist nur einem Senior des Klettersports wirklich verständlich. Die Jugend lebt in der Welt der stetigen Zunahme der Kraft. Nur so ist es zu erklären, dass die Youngsters Stunden um Stunden am Campusboard abhängen, zerren und zerren und tatsächlich nicht wie beim Senior nach 3 Wochen Intensivkur auf dem Sofa, sondern am nächsten Tag wieder mit maximaler Performance einen oder viele Boulder gleich welcher Art nieder reißen.
Der Senior hingegen schaut nur einmal in die verstaubte Ecke, in der gemeinhin das Campusboard sein einsames und verstecktes Dasein fristet. Natürlich wurde es dorthin nicht wegen der beabsichtigten Vereinsamung dieses Trainingsgerätes versteckt, sondern die Gestalter der Boulderhöh(/l)le legten Wert darauf, dass die potentiellen Nutzer ihre nagggischen Oberkörper nicht zu sehr in der Nähe der komplexbeladenen soziokulturellen Boulderraumgemeinschaft zeigen können. Böse Zungen behaupten auch, dass die Macher und Gestalter der Boulderräume meist selbst nicht in der Lage sind, am Campusboard zu performen und sie — sollten sie tatsächlich mal in der von ihnen gestalteten Räumlichkeiten auftauchen — nicht das Elend von 40er Oberarmen und herkulesken Oberkörpern sehen möchten, dass sie selber geschaffen haben.

8a_killerplauzeWo waren wir? Ach ja, beim Senior, der einmal zum Campusboard blickt. Gut, also der Senior wirft da mal seinen Blick hin und vielleicht macht er auch noch in einem Anfall von Jugendlichkeit an den zweitgrößten Leisten einen Move, der von ziemlicher Dynamik geprägt ist (erstes vorsichtiges Beschleunigen der Plauze durch einen eleganten Hüftschwung und dann im Totpunkt der Plauzenaufwärtsbewegung explosionsartiges Hochschnellen des Armes). Das Resultat ist vernichtend: Mindestens ein Ellenbogengelenk entzündet sich augenblicklich, die seit Jahren chronisch entzündeten Ringfingergelenke erreichen Unterarmdicke und der Senior weiß, dass er auch ohne diesen schmerzhaften Ereignisse wieder eine ganze Schaufel Kraft sinnlos verschwendet hat. Die notwendigerweise anstehenden 5 bis 7 Ruhetage wird er sich daher mit anderen, kletterfremden Dingen beschäftigen müssen (es steht zu vermuten, dass die berühmtesten englischen Rosenzüchter Kletterer im Seniorenalter waren und sind).

Es ist einfach so und die Jugend wird es erst lernen müssen: Das Prinzip vom Verbrauch der Energie sagt nichts anderes, als das jeder Mensch –es steht zu vermuten auch jeder Kletterer- sein Leben mit einem riesengroßen Sack voll Kraft beginnt. Nur so ist es zu erklären, dass Dreijährige Fb 8b+ bouldern und 9a-Touren direkt aus dem MaxiCosi heraus onsight nieder gerungen werden. Was die Kinder und später die Youngsters aber nicht wissen; jeder Zug, jeder Dynamo, einfach jede Kraftanstrengung ist ein Griff mit der mehr oder weniger großen Schaufel in den Sack mit der Kraft. Und wer zu oft in den Beutel greift und an dem sündigen Apfel der Kraft nascht, dessen Beutel wird ach so geschwind leer.

Der Senior ist schlauer. Er kennt dieses Prinzip, er kennt den Beutel und spart seine Restbeutelkraft für das große Projekt, das er „bald“ nieder ringen wird. Daher sitzt der Senior in sich ruhend vergnügt auf dem Sofa in der Boulderhöhle und sieht zu, wie die Youngsters Schaufel um Schaufel aus dem Beutel der Kraft entnehmen und der Beutel leerer und leerer wird. Der Senior erkennt, wie der Beutel leerer und leerer wird, die Hülle nach jeder Trainingseinheit einen Hauch weicher wird und sich nach Wochen wieder eine neue Falte im Beutel findet. Die Youngsters sehen dies nicht.

Es wird der Tag kommen, an dem der 75-Jährige Kletteranfänger im Rahmen eines DAV-Klettergrundkurses erstmals seinen randvollen Beutel aufmacht und mit der Schaufel einen satten Hub in die jungfräuliche Masse der Kraft macht. Aber Hallo!

Kommt man eigentlich mit dem Rollator zum Einstieg von Jumbo Love?

Aber es gibt noch die ganz geheimnisvollen Gesetze der metaphysischen Naturwissenschaften, die ungeschriebenen und noch nicht bewiesenen Gesetze, die an den Kletterwänden und Bouldern dieser Welt zu vermuten sind.

Exemplarisch wären hier „Ying und Yang“ und das von Cicero verwendete Alter Ego (lat. anderes Ich) zu nennen.

(Aus Wikipedia:) Ying und Yang als Prinzipien der Wandlung und der Korrelation. Ying und Yang bezeichnen Gegensätze in ihrer wechselseitigen Bezogenheit. Daher können sie zur Erklärung von Wandlungsvorgängen und Prozessen und zur Darstellung der gegenseitigen Begrenzung und Wiederkehr von Dingen benutzt werden.

Kennt ihr das? Da hat man sich tagelang vorbereitet; das Geschirr nur mit Gummihandschuhen abgespült, damit die Haut nicht leidet; die 2. Hälfte des Schokoladentafel unter Aufbringung eines fast übermenschlichen Willens wieder in den Schrank geschleudert; die leckere Leberkässemmel beim zweiten Frühstück durch eine Fenchelstange ersetzt und Tonnen von Kaffee in sich reingeschüttet, weil der ja entwässert. Der Körper hat sein (fast) optimales Gewicht zur Herstellung des Kräftegleichgewichtes zwischen Unteramstrom und Anpressdruck erreicht, die Haut ist fit und die Verhältnisse sind optimal. Und dann greift man an den ersten kleineren Griff, setzte den sorgfältig geputzten Kletterschluffen auf den Tritt, spannt den Körper zur einzigartigen Feder der Kraft, löst die zweite Hand vom Startgriff und plumpst wie ein Sack weicher, ledriger Winterkartoffeln auf das Crashpad. Es gibt so Tage, an denen das erreichte Vorbereitungsoptimum einfach nicht an die Wand will. Ich halte wenig davon, dass hier die Stadtwerke wieder die Schuldigen sind, weil der Bürgermeister die Schwerkraft mal wieder auf 14,81 hochgedreht hat. Es gibt da andere, noch geheime Gründe, die im Ying und Yang, im Gesetz des Wechselspiels zwischen dem Guten und dem Bösen liegen.

Aber was ist hier das Gute und was ist das Böse?

Ein Versuch der Erklärung kann im Gesetz von Ego und Alter Ego, den zwei miteinander in Widerspruch stehende Seiten einer gespaltenen Persönlichkeit liegen. So wie Ying und Yang miteinander im dynamischen Gleichgewicht stehen sollen, so stehen Ego und Alter Ego im Zusammenhang. Stellen wir uns also zur Erklärung wer der Gute und wer der Böse ist, die Frage wer Ego und wer Alter Ego ist.

sharmaondragrahamalteregoFür meine Person vermute ich, dass ich es weiß. Immer wieder lese ich von so einer komischen Gestalt mit Hakennase und lockigem Haar, der schier unglaublich den Gesetzen der Schwerkraft (und damit den Regelungen des Bürgermeisters am Schwerkraftregler trotzend) an den Felsen emporschwebt. Gut, man mang unterstellen, dass diese Gestalt die thermischen Aufwinde an den Felsen nutzt und ich bin mir nicht sicher, ob ich nicht ab und an bei den einschlägigen Belebtbildern, die man im Zwischennetz sichten kann, eine ganze Staffel von Benzinkochern wild fauchend am Einstieg sehen konnte. Aber egal, der Bub kommt seine Dinger hoch. Und genau da sehe ich einen Zusammenhang mit meinereinerselbst: Kaum wird über ein weiteres Emporschweben des Herren an den Felsen dieser Welt berichtet, mache ich nach hochambitioniertem Antritt nach 44 Ruhetagen am Projekt meiner Wahl einen auf ledrigen Winterkartoffelsack und Einschlag in den Niederungen des Crashpads. Die zeitliche Nähe zwischen den Veröffentlichungen einer 11 d+, die der Hakennäsige thermisch nieder gerungnen hat und meinen Einschlägen auf dem Crashpad sind signifikant. Es ist der Ondra, der zum Ausgleich seines Schwebens bei mir am Chalkbaggürtel hängt und meine Ambitionen vernichtet. Mein Alter Ondra

Wenn ihr also künftig nicht ganz das nieder reißen könnt, was ihr so geplant habt, schaut mal schnell über eure Schulter, ob nicht euer Yang, also euer Alter Ego mit der hässlich grinsenden Fratze eines Sharmaondragraham eurem flackerndem Blick enteilt.

Vielen Dank auch an die Kolleginnen und Kollegen der „Senioren gegen die Schwerkraft“, die durch ihre hochgeistigen Beiträge während der Gruppenstunden in der besten Boulderhalle der Welt )“bBhdW“ zu diesen hochwissenschaftlichen Erkenntnissen ihren Anteil zugetragen haben.

Text: Olli Fell / Fotos: Do Oarnie, do Olli und do Michi