Rekordschmelze bei den heimischen Gletschern

Noch nie in der bis 1891 zurückreichenden Geschichte des Alpenvereins-Gletschermessdienstes gab es einen größeren Gletscherschwund: Im Mittel sind die 89 vom Alpenverein beobachteten österreichischen Gletscher um 28,7 Meter kürzer geworden. Dieser enorme Anstieg des mittleren Rückzugs im Vergleich zum Vorjahr (11 Meter) bedeutet Alarmstufe Rot (!): Der Gletscherrückgang setzt sich rasant fort. Die größte Längenänderung wurde von den ehrenamtlichen Alpenvereins-Gletschermessern erneut in der Venedigergruppe gemessen, wo sich das Schlatenkees (Tirol) um 89,5 Meter (Vorjahr: 54,5 Meter) Länge zurückzog. Die Pasterze (Kärnten) verlor allein im Bereich der Gletscherzunge ein Volumen von 14,7 Mio. m³ Eis, das entspricht einem Würfel mit einer Kantenlänge von 245 m, also ungefähr der Höhe des Donauturms in Wien. Bereits letzte Woche hat der Österreichische Alpenverein in einer Pressekonferenz auf die Wichtigkeit eines ausnahmslosen Gletscherschutzes hingewiesen.

Das Gletscherhaushaltsjahr 2021/22 verlief außerordentlich gletscherungünstig. Alle 89 Gletscher, die von den ehrenamtlichen Alpenvereins-Gletschermessern beobachtet wurden, zogen sich zurück und verloren auch – überwiegend beträchtlich – an Fläche und Volumen. Der mittlere Rückzugsbetrag der 78 sowohl 2021 als auch 2022 vermessenen Gletscher betrug -28,7 m und ist damit nicht nur 2,6-mal größer als der Wert des Vorjahres (-11,0 m, berechnet für 79 Gletscher), sondern auch um 3,5 m größer als der bisherige Maximalwert (-25,2 m) aus dem Messjahr 2016/17. Seit dem Beginn der Gletschermessungen des Österreichischen Alpenvereins hat es bisher erst fünf Jahre mit durchschnittlichen Rückzugswerten über 20 Metern gegeben – und alle nach 2006. Der aktuelle Wert ist also ein deutlicher Rekord und unterstreicht die anhaltend schlechten Bedingungen unser Alpengletscher. 

Das im Zerfall befindliche Schlatenkees (Tirol) wies mit -89,5 Metern den höchsten Rückzugswert in Österreich auf. Die Pasterze (Kärnten) hat sich um 87,4 Meter Länge zurückgezogen. Den dritthöchsten Wert, nämlich – 84,3m, haben die Alpenvereins-Messer am Diemferner (Tirol) gemessen. „Dieses Ergebnis erklärt sich aus der Kombination unterdurchschnittlicher Schneemengen im Winter und einer erneut langen und sehr warmen Schmelzperiode, die schon an der Monatswende Mai/Juni einsetzte und bis in den September hinein andauerte“, analysieren Gerhard Lieb und Andreas Kellerer-Pirklbauer, Leiter des Alpenvereins-Gletschermessdienstes und hauptberuflich am Institut für Geographie und Raumforschung an der Universität Graz tätig. 

Spätestens ab der zweiten Julihälfte 2022 waren die meisten Gletscher zu weit mehr als der Hälfte ihrer Fläche eisfrei. Zum Zeitpunkt der maximalen Ausaperung im September waren an allen Gletschern nur mehr schmale Streifen von Firn oder Schnee in den höchsten Gletscherteilen vorhanden. Somit verfügte kein Gletscher noch über ein nennenswertes Nährgebiet, sondern die österreichischen Gletscher waren beinahe vollständig zu Zehrgebieten geworden und verloren auch in den höchsten Bereichen massiv an Eis. Wichtig für das sommerliche Abschmelzgeschehen auf den Gletschern war außerdem der Mitte März durch Strömungen aus südlicher Richtung erfolgte Eintrag von Saharastaub: Dieser blieb in der Schneedecke im Hochgebirge eingelagert und verdunkelte nach Abschmelzen der darüber liegenden Schneeschichten im Sommer die Schneedecke, was deren Abbau durch stärkere Absorption der Strahlung beschleunigte.

Das Haushaltsjahr gehört in Hinblick auf Witterung und Schnee – selbst in einer Periode, in der jedes Jahr gletscherungünstig ist – zu den ungünstigsten in der Geschichte der Gletscherforschung. Der heurige bei weitem höchste Rückzugswert seit Beginn der Alpenvereins-Messreihe vor 132 Jahren macht unzweifelhaft die Folgen des anthropogen massiv verstärkten Klimawandels deutlich: Der aktuell und in Zukunft wohl weiter herrschende drastische Gletscherschwund macht langfristig die österreichischen Alpen so gut wie eisfrei – „optimistisch“ wird dies 2075 sein, wahrscheinlich aber deutlich früher. Die Gletscher zehren noch von Eisreserven der Vergangenheit und wären schon verschwunden, würden die gegenwärtigen Klimabedingungen nicht erst seit etwa 1990, sondern schon ein paar Jahrzehnte länger anhalten.

so die Analyse der Leiter des Alpenvereins-Messdienstes Lieb und Kellerer-Pirklbauer.

Alpenverein fordert Schutz von hochalpinen Regionen 

Der Österreichische Alpenverein als Naturschutzorganisation setzt sich seit Jahren für den ausnahmslosen Gletscherschutz und den Schutz der umliegenden hochalpinen Regionen ein. In einer Pressekonferenz am 23.03.2023 sprach er sich deshalb erneut vehement gegen den weiteren Ausbau von Gletscherskigebieten aus. Gemeinsam mit den Naturfreunden, dem WWF und dem Deutschen Alpenverein fordert der Österreichische Alpenverein in einem Antrag an die Tiroler Landesregierung den skitechnischen Ausbauplänen auf den drei Gletschern rund um den Linken Fernerkogel im Pitztal eine Absage zu erteilen und stattdessen das Ruhegebiet Ötztaler Alpen auszuweiten. Die touristische Neuerschließung von Gletscherflächen ist aus Sicht des Alpenvereins in einer Zeit, in der die Klimakrise den Gletschern ohnehin enorm zusetzt, einfach nicht mehr vertretbar.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist dem Österreichischen Alpenverein vor allem auch die laufende Information an die Mitglieder mit dem Aufruf, sich gegen ein Fortschreiten der Klimakrise einzusetzen:

Wir müssen uns die unangenehmen Folgen für die Menschen vor Augen führen. Das rasche globale Abschmelzen der Gletscher trägt einen wesentlichen Anteil zum Anstieg des Meeresspiegels bei, Überschwemmungen und Vermurungen inklusive. Die fehlenden natürlichen Wasserspeicher im Gebirge führen in weiterer Folge zu regionaler Trockenheit.

mahnt Ingrid Hayek, Vizepräsidentin des Österreichischen Alpenvereins.

 

Schwierige Geländebedingungen

Die Gletscher ziehen sich immer weiter zurück und in vielen Gebieten ist es inzwischen so, dass die Zugänglichkeit nicht mehr gegeben ist: Denn die Geländebedingungen werden schwieriger, wenn sich die Gletscher zurückziehen. Dann bleibt in den meisten Gebieten sehr steiles, lockeres Schuttmaterial zu­rück oder die höheren Geländeteile sind nur über sehr schwierige Felspartien zugänglich. 

„Wenn das der Fall ist, hören die Gletschermessungen auf, weil es einfach zu gefährlich wird, sie durchzuführen. Es gibt dann zwei Szenarien: Entweder der betreffende Gletscher wird weiterhin durch Fotovergleiche beobachtet, um dadurch zu sehen, ob er größer oder kleiner geworden ist. Oder er wird aus dem Programm genommen“, erklären Lieb und Kellerer-Pirklbauer. Und das passiere natürlich immer wieder – im Jahr 2022 war dies beim Bieltalferner in der Silvrettagruppe der Fall. Durch die schwieriger werdenden Bedingungen wird die Zahl der insge­samt vermessenen Gletscher dadurch tendenziell geringer.

Gletschermessdienst in Zahlen

Der Gletschermessdienst des Österreichischen Alpenvereins beobachtet bereits seit 132 Jahren die heimischen Gletscher und registriert akribisch deren Längenänderungen. An einigen Gletschern werden zusätzlich Messungen der Fließgeschwindigkeiten und der Oberflächenhöhenveränderung durchgeführt. Die Gebietsverantwortlichen – alle ehrenamtliche Gletschermesser des Österreichischen Alpenvereins – nahmen österreichweit 89 Gletscher in zwölf Gebirgsgruppen – vom Dachstein bis hin zur Silvretta – unter die Lupe. Die Gletscherberichte und die Fotodokumentationen aus den Alpenvereins-Archiven vermitteln ein einzigartiges Bild von der Entwicklung der Gletscher in den Ostalpen und sind wissenschaftlich von internationaler Relevanz. Diese klimarelevanten Daten werden in internationale Datenbanken wie beispielsweise dem World Glacier Monitoring Service (WGMS) eingespeist.

Umfassender Gletscherbericht & Informationen

Alle Ergebnisse und Detailanalysen zur aktuellen Analyse der heimischen Gletscher sind nachzulesen im Alpenvereinsmagazin Bergauf #2.2023 (www.alpenverein.at/bergauf). Die gesammelten Gletscherberichte der vergangenen Jahre und weiterführende Informationen zum Gletschermessdienst sind zu finden unter www.alpenverein.at/gletscher.

  • Credits Text Anna Praxmarer/ ÖAV, kletterszene
  • Credits Fotos Alpenverein/Simon Schöpf, Andreas Kellerer-Pirklbauer, Fuxografie, Alexander Doric
  • Beitragsdatum 1. April 2023