Pirmin Bertle befreit Minimalomania 8C+/9A Trav. in Lindental/ Schweiz [News / Video]

Ende Januar, kurz vor Eintritt des Kletterverbots in Berns Hausboulderspot, gelang Pirmin Bertle unter absolutem Hochformeinfluss nach rund 40 Tagen mit Minimalomania (Fb8C+/9A trav.) seine bisher schwerste Kletterperformance. Zwar ist die 25-Zug Traverse nur ein Teil seines ursprünglichen (und reichlich vermessenen) Projekts, sau schwer ist sie allerdings trotzdem. Und wie schön es sein kann, seine Ziele nach unten zu revidieren, musste Pirmen auch mal wieder gelernt.

Aber lassen wir Pirmin selbst über seine Erstbegehung erzählen…

Es ist Sommer 2012 und ich überfliege in Gedanken, was ich gedenke im kommenden Herbst und Winter schönes zu klettern. Vor mir schwebt eine Traverse durch den gesamten rechten Teil des Lindentals. Ca. 80 Meter, 200 Züge, bester Sandstein, niemals nass, ein 4000 km2 Sandkasten für den Nachwuchs am Einstieg. Die hinteren 60m kenne ich schon. Sie heißen E la nave va piu avanti und ich konnte sie 2009 in insgesamt rund 15 Tagen klettern. Die Bouldertraverse war Fb9A trav. bewertet, die schwerste der Welt. Ich wertete sie auf Fb8C trav. ab, denn sie fiel mir keinesfalls schwerer als eine 9a Route, eher leichter. Die neuen 20 Meter hatte ich mir auch schon mal kurz angesehen. Sie schienen nicht unmöglich. Im Gedankenflug fühlt sich mein Projekt also irgendwie gar nicht so schwer an.
Ende August stehe ich dann zum ersten Mal am Wandfuß. Ich schreite die 80 Meter ab. Den ganzen Sommer war ich nur gelegentlich Bouldern, alles Längere empfinde ich als sehr anstrengend. Die Strecke am Boden zu laufen – auch ziemlich anstrengend. Aber ich habe ja fünf Monate Zeit, fit zu werden.
Meine erste Entdeckung ist, dass ein Griff auf den neuen 20m fehlt. Ohne den geht’s nicht, zumindest nicht für mich. Ich schneide also vorne 10m von meinem Plan ab. Es bleiben 25 neue Moves bis zum Start von E la nave… In Gedanken waren diese noch recht gängig, in echt sind sie das überhaupt nicht. Vor allem der Sitzstart erfordert einiges an Vorstellungsvermögen, um ihn sich als kletterbar auszumalen. Auch die hinteren 60m müssen erst wieder eingeschliffen werden. Zudem fehlen dort zwei wichtige Griffe. Die ersten Versuche längere Passagen aneinander zu hängen fühlen sich ultimativ pumpig an. Aber der Herbst beginnt gerade erst. Ich habe Zeit bis zur Schließung Anfang Februar.
Ich übe und trainiere, die Bedingungen sind meistens schlecht, der Herbst der nasseste, den ich in der Schweiz erlebt habe. Wirkliche Alternativen zum Lindental gibt es nicht und bei 160 verschiedenen Zügen wird einem ja auch nicht so schnell langweilig. Ich bin voller Optimismus. Stecke mir Zwischenziele. Manche halte ich sogar ein. Zwei Problemzonen aber geben sich hartnäckig. Die ersten drei Züge, von deren Durchstieg ich noch ein gutes Stück entfernt bin und die holistischen Anforderungen, extremen Boulderstrom mit nicht minder extremer Ausdauer zu verbinden. Wer schon mal beides gleichzeitig trainiert hat, weiß wie sich die zwei Spinne Feind sind.
Der Herbst regnet sich langsam in den Winter hinüber und der Durchstieg bleibt noch immer ein eher theoretisch-abstraktes Konzept. Der Sitzstart wird nur in kleinen Schritten möglicher und das feuchte Wetter deckt eine weitere Baustelle im Projekt auf: Eine eigentlich harmlose Passage zu Beginn der ursprünglichen Traverse, die sehr gerne sehr ausgiebig siffig bleibt, entpuppt sich als echte Crux, da ich die neuen 25 Moves inklusive bereits dort nicht mehr ausreichend Reserven habe, um diesen Sumpf zuverlässig zu überstehen. Meine Versuche (noch ohne Sitzstart) enden viel zu oft dort, als dass es sich um eine durchstiegstaugliche Option handeln würde. Mein Kopfzerbrechen über dieses Problem mündet schließlich in der Überzeugung, vielleicht lieber nur E la nave va ohne Verlängerung an meinen neuen Start anzuhängen. In der letzten Crux hat zudem die Kante einer Leiste das zeitliche gesegnet und die Stelle nochmal erschwert. Mein Projekt ist Mitte November also 15m kürzer. Vermessen ist es immer noch.
Auch da einige starke Leute den neuen Teil meines Projekts versuchen, kann ich mir langsam ein Bild über die Schwierigkeiten machen. Nach insgesamt vier Griffausbrüchen dürfte Et la nave va pui avanti wohl bei Fb8C/8C+ trav. einchecken. Die kurze Version wohl bei sehr hart Fb8B+ trav. Die neuen Meter ohne Sitzstart kommen mir stark entgegen und sind nicht für unter Fb8B trav. zu haben. Der Sitzstart alleine ist jedoch für mich (und auch für alle, die ich darin gesehen habe) der schwerste Teil. Auch er entspricht meiner Vorliebe für kleine Griffe und auch meiner Größe. Und ist wahrscheinlich Fb8B+. Zwischen neuem und altem Teil gibt es zwar immer mal wieder einen guten Griff, auf Null herunter schütteln kann man aber nicht. Ich werde mir bewusst, dass ich im Versuch begriffen bin an eine mindestens Fb8C+ Traverse eine Fb8C/8C+ Traverse zu hängen. In Routenbewertungen (mit denen ich mich besser auskenne) ausgedrückt, will ich also eine mindestens 9a+ mit einer 9a/9a+ verbinden, wobei sich der einzige richtig gute Rastpunkt bei Meter 40 befindet. Ich bin ein wenig stolz auf meine Vermessenheit, die Zweifel an der Machbarkeit meines Projekts legen sich allerdings dadurch nicht.
Es ist kurz vor Weinachten, als ich dann mit dem Kürzen radikal werde. Auch die Minusgrade konnten den Siff im Mittelteil nicht schlagen, im Sitzstart touchiere ich noch immer die Matte und ohne die Weihnachtsferien bleiben mir nur noch knapp vier Wochen im neuen Jahr. Das ist zwar eine Menge Zeit, die Welt verändern dauert aber länger. Ich beschließe also mich nur noch auf den ersten Teil zu fokussieren, den Rest habe ich ohnehin nur nebenher trainiert und kann die Kraft dafür im Notfall kurzfristig „reaktivieren“. Ich verwerfe also das ganze Gepumpe aus E la nave va und entscheide mich nur die ersten Meter bis zu einem logischen Ende zu entleihen. Mein Projekt ist jetzt noch 40 Züge lang. Macht ein Fünftel von 200.
Wir schreiben das Jahr 2013, aber mit dem Abschneiden ist es noch nicht vorbei. Denn der Übergang zu E la nave va ist einfach zu viel für meine an diesem Punkt total erledigten Schultern und der Sitzstart geht immer noch nicht sauber. Ich streiche die letzten 7 Meter und nehme einen bestehenden 7B Boulder als neuen Ausstieg. Es sind jetzt noch 25 Bewegungen. Ich freue mich mein Minimalziel nun recht nah vor Augen zu haben.
Am 22. Januar dann gelingt mir nach fünf Monaten endlich – nein, nicht der Durchstieg – aber der Sitzstart. Wahrscheinlich habe ich ihn nicht an jedem der 40 Tage versucht, die ich nun im Lindental gewesen bin, die schwersten Züge meines Lebens sind es aber garantiert. Mir bleibt noch eine Woche.
Einen Tag lang wirft mich noch der letzte Zug ab, dann greift das Schicksal zur letzten Waffe und arrangiert ein Treffen mit meinem neuen Nahrungsmittelergänzungssponsor. Und das klingt jetzt nach schlechter Werbung, aber nach drei Tagen ergänzter Regeneration, zwei Tage vor Schließung des Lindentals, halte ich gleich im ersten Versuch des 29. Januar die Schlussgriff-Sanduhr in der Hand. Und zwar in einem richtig kontrolliertem Versuch.
Vielleicht ist aber auch der zusammenbrechende Föhn schuld, der für ordentlich Wind sorgte, oder einfach die wortwörtliche Torschlusspanik. Fast komme ich doch noch in Versuchung noch einen Versuch in die 40-Zug-Version zu geben, schließlich aber sage ich mir: „Wer sich so am Zurückstecken seiner Ziele ergötzt, der muss dann auch dazu stehen.“ Und Bier trinken erscheint mir ohnehin die angenehmere Option.

So endet die Geschichte meiner einst so megalomanen Ambitionen, die schließlich gewissermaßen minimaloman enden. So heißt demensprechend auch die neue Kreation: Minimalomania. Vier Züge 8B+, elf Züge 8B trav., neun Züge 7B. Keine Ruhepunkte, stark repetitive Belastung vor allem der rechten Schulter. Kleinste Griffe, weite Züge, sehr schlechte Tritte. Anforderungen an die Präzision: hoch, an die Maximalkraft und Maximalkraftausdauer: ebenfalls. Pumpig: nicht besonders. Zu empfehlende Größe: 180cm, sonst wird’s schwerer. Ergo: Voll mein Ding. Gebe ich all diese Fakten in meine eingebaute Schwierigkeitsgrad- berechnungsmaschine ein, so lautet die Antwort: 42. Nein, so hoch dann auch wieder nicht. Ich habe keine Ahnung von Boulderbewertungen, Traversen fielen mir schon immer mindestens einen halben Grad leichter als angegeben, als Route wäre Minimalomania meine bei Weitem Schwerste. Subjektiver Routengrad also: 9a+. Hieße 8C+ trav.. Addiere ich den multiplen Liegfaktor aus Größe, Stil, Zuganzahl und dem für Traversen typischen Ausbleiben von Aufwärtsbewegungen (in denen ich schon immer schlechter war) dazu, gibt es noch einen halben Grad drauf: 8C+/9A trav. Klingt vermessen. Ist es auch. Aber wer will, kann es ja abwerten.

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Video-Link: http://vimeo.com/61460161

Pirmin Bertle wird von Folgenden Firmen unterstützt:

Text: Pirmin Bertle, kletterszene.com Video: Pirmin Bertle Foto: Jeanne Garnier u. Johannes Lüft

  • Beitragsdatum 15. März 2013