Pietro Vidi wertet Alberts Barfuß-9A auf 8B+ ab | L’Ombre du Voyageur
Vor nicht ganz zwei Jahren hatte „Barefoot“ Charles Albert sein Langzeit-Projekt in Salève mit 9A bewertet. Jetzt hat sich Pietro Vidi mit Kletterschuhen rangewagt – und gleich um drei Grade abgewertet.
Auf den ersten Blick schreibt sich der Aufhänger dieser News quasi von selbst: Charles Albert, bekannt für seine minimalistischen Begehungen (niemals Schuhe oder Kneepads, Crashpads nur wenn unbedingt nötig) schlägt den schwerstmöglichen Grad für sein Boulder-Projekt vor, nur um vom ersten schuhtragenden Top-Kletterer ein gnadenloses Downgrade zu erhalten.
So weit, so einfach.

Auch wenn nach Pietro Vidis Wiederholung nun feststehen dürfte, dass L’Ombre du Voyageur langfristig vermutlich nicht bei 9A eincheckt, könnten beide Begehungen unterschiedlicher nicht sein. Sie bieten Anlass zu einer Reflektion über Schwierigkeitsgrade und Hilfsmittel im Bouldersport.
Hintergrund: Charles‘ härtestes Rissprojekt
Am 18. Oktober 2023 gelang Charles Albert die Begehung seines Langzeit-Boulderprojekts im französischen Salève nahe der Schweizer Grenze, das er auf den Namen L’Ombre du Voyageur taufte – und mit der Schwierigkeit 9A versah.
Die Linie folgt einem etwa zehn Meter langen Deckenriss der Höhle und wurde vor langer Zeit vom Schweizer Urgestein Elie Chevieux entdeckt. Albert fuhr über vier Jahre hinweg immer wieder zu seinem Projekt in den Osten Frankreichs, bis es endlich klappen wollte.
Sind beide Begehungen vergleichbar?
Schon bei Charles Alberts Erstbegehung vor fast zwei Jahren haben wir die Frage gestellt, inwiefern sich die Schwierigkeit eines – und insbesondere dieses – Boulders ändert, wenn der bzw. die Kletter*in dabei Schuhe trägt. Diese Frage hat der Italiener Pietro Vidi jetzt fürs Erste beantwortet: 8B+.
Habe für die Linie alles Gummi ausgepackt, was da war.
Pietro Vidi
Der 22-Jährige aus Arco zeigte sich zwar beeindruckt von Alberts Leistung – mit „ein bisschen Trickserei“ sei die Linie aber „einfach so viel leichter“. Die Trickserei in Vidis Fall: ein Paar Kletterschuhe, ein Paar Crack-Handschuhe und vier Kneepads. Eine Vergleichbarkeit beider Begehungen ist damit kaum gegeben.
Eine Frage der Hilfsmittel Einstellung
Mit seiner Herangehensweise ist Charles Albert innerhalb der Boulderszene ein Außenseiter, der für seine Barfuß-Begehungen auch gerne mal belächelt wird. Das zeigte sich auch in den Social Media-Kommentaren, als Albert für L’Ombre du Voyageur den Grad 9A vorschlug: „Niemals 9A mit Schuhen“, „Der nächste Typ mit La Sportiva-Vertrag und Kletterschuhen macht sich schon bereit zum Abwerten.“
Gleichzeitig wird Albert auch von nicht wenigen für seinen besonderen Begehungsstil gefeiert – eigentlich kein Wunder im Klettersport, der grundsätzlich auf ethischen Prinzipien fußt und dessen Mitglieder in vielen Fällen gnadenlos über jene urteilen, die diese in ihren Augen verletzen.

Dass sich der Vergleich beider Begehungen (Alberts und Vidis) trotzdem aufdrängt, liegt auch daran, dass es die bisher einzigen Begehungen derselben Linie sind – und vor allem, dass beide Kletterer ein Bewertungssystem für zwei Stile nutzen, die sich nur schwer gegenüberstellen lassen.
Schon Alberts erster Vorstoß in den Grad 9A hatte sich langfristig nicht gehalten: 2019 schlug er mit No Kpote Only in Fontainebleau die damals erst zweite Linie in diesem Grad vor – heute steht der Boulder bei 8C.
„Der Boulder ist trotzdem ziemlich geil“
Dass Boulder und Routen grundsätzlich abgewertet werden, sobald jemand eine leichtere Beta entdeckt, gehört zurecht zu den etablierten Praktiken im Klettersport: Die leichteste Lösung dient als Untergrenze für den Schwierigkeitsgrad. Auch werden teils unterschiedliche Grade vergeben, je nachdem, ob z.B. Kneepads verwendet werden.
Aber inwiefern gilt das für den völligen Verzicht auf Hilfsmittel – vor allem, wenn kaum jemand so klettert?

Es ist natürlich unwahrscheinlich, dass sich Top-Kletter*innen künftig Albert anschließen und auf Schuhe und sonstiges Equipment verzichten.
Selbst wenn L’Ombre du Voyageur mit maximaler Ausrüstung „nur“ 8B+ schwer ist, fühlt es sich dennoch falsch an, Alberts‘ Leistung nicht als das zu würdigen, was sie ist: eine einzigartige Begehung in einem so besonderen Kletterstil, der sich – zumindest nach jetzigem Stand – scheinbar nicht mit dem ohnehin subjektiven Bewertungssystem des Sports erfolgreich beschreiben lässt.
Dieser Meinung ist übrigens auch Pietro Vidi. Der Italiener, dem bisher zwei 8C+ Boulder gelungen sind, sagt selbst, er sei „etwas völlig anderes geklettert [als Charles Albert].“ Darüber hinaus zeigte er sich auch von der Qualität von L’Ombre du Voyageur beeindruckt – „gerade für einen Boulder an Kalkstein“.
Was Charles geklettert hat war zweifellos unglaublich schwer und eine außergewöhnliche sportliche Leistung.
Pietro Vidi
Video-Link: https://youtu.be/UmAAWV7Y1BM?si=dE_PSzVPrTiSlYk5