Eine Kritik des neu aufgelegten Buches »Die Eroberung des Unsichtbaren« von Thomas Hrovat

Höhen und Tiefen, Euphorie und Megafrust. Das gehört zum Weg jedes Kletterers, für den die ganze Geschichte mehr ist als nur ein bißchen Alternative zum McFit-Studio. Im einen Moment möchte man seine unbequemen Folterschuhe für immer in den nächsten Mülleimer pfeffern, im nächsten Moment Job und Haus kündigen, um den Rest seines Lebens kletternd 24/7 an den Wänden dieser Welt zu verbringen.

Klettern kann einem also den Weg ins Paradies des ewigen Glücks weisen, aber eben auch den Weg in die dunkelsten Kellergewölbe, in denen alles blöd und doof ist. Soweit nichts neues und je nach Platzierung auf dem persönlichen Passion-O-Meter halt mehr oder weniger stark ausgeprägt. 

Wie sagte der russisch-orthodoxe Pope auf der Hochzeit eines Freundes so schön in bestem Tschacko-Deutsch? »Läbään ist bittär und süß.« Wie er doch Recht hatte! 

Meiner Meinung nach besteht des Kunst des Lebens darin, die Höhenflüge ordentlich abzufeiern und zu genießen, die Down’s sowie den grottenöden Alltag hingegen achselzuckend hinzunehmen und als irgendwie notwendigen Gegenpol zu akzeptieren, auf dem wieder Anlauf genommen wird. Denn wer krampfhaft nur Highlights pflücken will, verweigert sich der offensichtlichen Realität und ist schlußendlich garantiert unglücklicher als der- und diejenige, die das Bonmot vom berühmten Hunter S. Thompson inhaliert haben. Der schlaue Mann schrieb einst: »Ich habe sozusagen zu leben gelernt, als mir die Einsicht kam, dass ich niemals Glück oder Frieden finden werde. Aber solange ich weiß, dass die Chancen, das eine oder andere von Zeit zu Zeit zu erwischen, nicht allzu schlecht stehen, gebe ich mein Bestes zwischen den großen Augenblicken

Uh yeah, Hunter!

Was aber ist das »Beste zwischen den großen Augenblicken«? Oder was sind die »großen Augenblicke«? Für uns Kletterer gibt’s da ’ne Menge möglicher Dinge: Alleine das Bewußtsein einen schönen Tag am Fels vor uns zu haben, kann einen großen Augenblick ausmachen. Oder der Moment, an dem es klickt und die Schlüsselstelle entschlüsselt wurde, kann einen euphorisch werden lassen. Oder wenn man die magische Energie spürt, die like-minded Kletterer an einem Ort kreieren können, wenn alle den gleichen Spirit atmen.

Oder eben auch der Moment, an dem man zum ersten Mal einen neuen Schwierigkeitsgrad schafft und in eine persönliche neue Dimension einsteigt. Just die Sache mit dem Grad hat jedoch auch etwas potentiell Toxisches, denn die Meßbarkeit der Schwierigkeit ist zwar etwas, ohne dass unser Sport nicht wirklich funktioniert (zumindest hat das noch nie auf Dauer geklappt; selbst The-man-himself-Chris Sharma hat sich mit dieser Mission überschätzt), aber die Sache kann schnell zur einzig wichtigen Meßlatte werden: »Was, Du hast keine 8a im Urlaub geklettert? Schade, da hättest Du ja auch gleich hier bleiben können!« Auch der Autor dieser Zeilen erkennt sich übrigens als schuldig im Sinne der Anklage. Mit hängendem Kopf kehrt man dann aus den schönsten Klettergebieten dieser Welt heim und fragt sich – hoffentlich zumindest – mit ein wenig Abstand in einer ruhigen Minute: »Wie bekloppt bin ich eigentlich mich selber dermaßen zum Slave of the grade zu machen?« Ganz nebenbei bemerkt haben ca. 99 % aller Menschen auf der Erde wesentlich ernsthaftere Probleme.

Es ist die uralte Frage, ob das Ziel die einzige Motivation ist oder der Weg. Oder zumindest ob auch der Weg ein Teil der Motivation ist, denn ich finde, dass sich Prozess-Orientierung und Ziel-Orientierung überhaupt nicht ausschließen.

Was zum Henker, fragst Du, hat das nun mit dem Buch Hrovats zu tun?

Der Österreicher Thomas Hrovat hat in den Achtzigern, als das moderne Sportklettern Fahrt aufnahm, als einer der Ersten Routen im zehnten Schwierigkeitsgrad geklettert, war also quasi mit an der Weltspitze aktiv. Den zehnten Grad klettert heute jedes dritte Kind im Krabbelkurs, aber stell Dir einfach vor, dass Du nun einer der Ersten wärst, der Zwölfer klettert und schon hast Du ein Gefühl dafür, in welchen Sphähren sich Thomas damals gefühlt haben muß. 

Eines vereint alle, die nach dem Unmöglichen streben: Normal, ausgeglichen und just happy sind sie alle nicht. Wie Jerry Moffatt in »Mastermind« herausarbeitete, mußt Du irgendein Defizit, irgendeine Schraube locker haben, um Dir selber Steine in den Weg zu legen und Dich daran beweisen zu wollen. Und gerade die Kletterwelt ist voll von Weirdo’s und extremen Persönlichkeiten. Gottseidank, denn keiner von uns will Hallen-Halma spielen und sich mit gähnender Langeweile umgeben. Die Faszination des Kletterns liegt ja gerade auch in den Menschen, die das Klettern prägten und prägen. Eben keine Average-Joe’s, sondern Charismatiker wie Lynn Hill, Wolfgang Güllich oder Adam Ondra. Menschen, die das Klettern extremst pushten, sich aber auch immer wieder der glücklichen Umstände, die das Klettern begleiten, bewußt wurden.

Ungesund wird’s, wenn man gar nichts anderes mehr sieht als die Binarität des Kletterns: Oben sein gleich Erfolg. Nicht oben sein gleich Mißerfolg. Wenn jeder Move einzig und allein den Zweck hat einen zum Top zu führen, ansonsten war der Move sinnlos und verschwendet. Klingt zu extrem und herbei fantasiert? Dann lies Hrovats faszinierendes Buch, der diese Maxime bis zum Äußersten mit allen Konsequenzen durchgezogen hat.

Und sich damit nicht nur jeglichem Kletterglück entledigte, sondern sich noch eine Menge mentaler Probleme aufhalste. Mit schonungsloser Offenheit und im Gegensatz zum mir wahrem schriftstellerischem Talent lässt er sich in die Seele blicken und entwirft eine Art »Anleitung zum Unglücklichsein«, wie einst der berühmte Psychologe Paul Watzlawick. Thomas Hrovat hat uns den Gefallen getan diesen Klassiker für Kletterer zu adaptieren. Ironie off: »Klettern ist die schönste Nebensache der Welt« (Wolfgang Güllich) und die Lektüre dieses Buches hilft Dir sicherlich die richtigen Pfade einzuschlagen, damit das auch immer so bleibt. 100 % Leseempfehlung.

  • ASIN ‏ : ‎ B0BYLSCPPT
  • Herausgeber ‏ : ‎ Independently published (15. März 2023)
  • Sprache ‏ : ‎ Deutsch
  • Taschenbuch ‏ : ‎ 210 Seiten
  • ISBN-13 ‏ : ‎ 979-8385770823
  • erhältlich bei Amazon und in jeder gut sortierten Buchhandlung

  • Credits Text Hannes Huch
  • Credits Fotos Hannes Huch
  • Beitragsdatum 6. Juni 2023