The Classics – Dreamtime in Cresciano

Der grösste Paukenschlag seit Midnight Lightning: Fred Nicoles Dreamtime in Cresciano war nicht nur die erste 8C, sondern die Initialzündung für den Boulderboom im Tessin und weltweit.

Im Wald da sind die Blöcke

„Mit Laufen, viel durch die Wälder laufen…“ Fred Nicoles schmunzelnde Antwort auf die Frage, wie er Dreamtime entdeckt habe, benennt eine Anforderung an jeden Boulderpionier, die gern vergessen wird: Er sollte — neben Bärenkräften — auch gewisse Waldschrat-Qualitäten mitbringen. Viel gelaufen war Nicole oberhalb des Örtchens Cresciano auch schon in den Jahren zuvor, da allerdings immer talaufwärts in Richtung Osogna.

Im Frühjahr 1991 hatte er mit Freunden das Tessin besucht, um die dortigen, nördlich der Alpen noch unbekannten Sportklettergebiete zu erkunden. Claudio Cameroni aus der kleinen lokalen Erschliesserszene zeigte ihnen die Highlights, darunter die Felsriegel von Cresciano und Osogna. „Wir waren begeistert von der Qualität des Gesteins. Einen Gneis mit solch feinen und subtilen Formen und so einzigartigem Grip hatten wir noch nie gesehen“, erinnert Nicole sich.

Die unzähligen Blöcke, die sich auf den Terrassen unterhalb der Wände verteilen, blieben den Besuchern nicht verborgen. Auf ihre Nachfrage erzählte Cameroni, dass bisher nur Mario Ferrari regelmässig zum Bouldern nach Osogna gekommen sei. Später erfuhren sie, dass auch der Basler Richi Signer in den 1980ern in Cresciano bouldernd aktiv gewesen war. Aber natürlich hatten sich auch die Tessiner Seilkletterer an den offensichtlichsten Problemen versucht. Den Superklassiker Vol au vent (7A) kletterte Fausto Sonzogni bereits Mitte der 80er-Jahre.

1992 war Nicole wieder mit einigen Freunden vor Ort. Vom heutigen Hauptsektor folgten sie putzend und bouldernd den uralten Pfaden durch die Kastanienwälder in Richtung Osogna, dabei entstand unter anderem Harry Spotter (7A). 1994 gelang Nicole die Erstbegehung von Rêve de Mario, die erste 8A des Tessins. Fortan reiste er regelmässig an, es folgten Klassiker wie La grotte des soupirs (7C), La boule (8A) und La proue (8B). Ab 1996 gesellten sich weitere Deutschschweizer, Österreicher und Süddeutsche unter die Tessin-Boulderer, um diese Zeit nahm auch die Erschliessung im 30 Kilometer nördlich gelegenen Chironico Fahrt auf.

Anfang 2000 erkundete Nicole in Cresciano erstmals die Hänge talauswärts. Auf der Terrasse einer steilen Waldrippe fand er einen gewaltigen Block mit einer genialen, diagonalen Linie durch dessen Nordostseite. „Wir fingen an, den Fels zu putzen, probierten ein bisschen und sahen, dass es gehen könnte“, berichtet Nicole. In der Folge versuchte er sich bei jedem Cresciano-Besuch an der Linie und entschlüsselte eine Sequenz nach der anderen. Einige Male kam er bis zum letzten schwierigen Zug an der Lippe des 45-Grad-Überhangs, dann läuteten steigende Temperaturen das Ende der Frühjahrs-Bouldersaison im Tessin ein.

Im Herbst 2000 war Nicole wieder vor Ort, am 28. Oktober gelang ihm schliesslich der Durchstieg. Sein Bewertungsvorschlag: 8C – der erste Boulder dieses Grades weltweit.

Der Name Dreamtime steht nicht nur für eine Schwierigkeit, sondern auch für die Schönheit der Linie. Wir waren im Sommer in Australien gewesen, deshalb schien mir dieser Name zu passen. Bei den Aborigines steht ‚Dreamtime‘ für eine Art von Halbtraum-Trance, etwas zwischen Traum und Realität oder ein Traum, der Realität wird. Als ich die Linie zum ersten Mal gesehen hatte, dachte ich: Wow! Ist das überhaupt möglich? Und dann ist es schliesslich gegangen. Dreamtime war eine sehr spezielle Zeit für mich, ein Höhepunkt in meinem Kletterleben,

so Nicole.

Jan Hojer war damals erst Acht und hatte mit Felsen noch nichts am Hut. „Ich habe 2003 mit dem Klettern begonnen, kannte also von Anfang an die Bilder von Dreamtime aus den Magazinen. Und jedesmal, wenn ihn jemand geklettert hat, habe ich die Videos angeschaut. Mit 15 war ich dann zum ersten Mal in Cresciano und bin direkt zu Dreamtime hochgelaufen. Das war über Silvester. Wir schliefen in einer Hütte im Wald, die nur zwei Wände hatte, es war eiskalt, und wir sind nie wirklich warm geworden beim Bouldern. Dementsprechend hat mir Cresciano nicht so gut gefallen. Ein, zwei Jahre später bin ich bei vernünftigeren Bedingungen wiedergekommen und habe das Gebiet zu lieben gelernt. Seitdem bin ich regelmässig hier.“ Jans erste Begegnung mit Dreamtime war offensichtlich auch für ihn eine spezielle Zeit…

Irgendwann überraschte der Kölner sich selbst, als ihm der Stehstart (8A/+) ab der grossen Sloperleiste in der Mitte von Dreamtime gelang. „Nun war ich richtig motiviert, es auch von unten zu probieren“, erzählt der Boulder-Europameister von 2015. Am 18. Februar 2013 klappte der Durchstieg. Jans Kommentar: „Der perfekte Boulder! Viel härter als jede 8B+, die ich je probiert habe.“

Bewegte Bewertungsgeschichte

Zu diesem Zeitpunkt dauerte die Diskussion um den Schwierigkeitsgrad von Dreamtime bereits zehn Jahre. Im April 2001 hatte sich Bernd Zangerl die zweite Begehung geholt, es folgten Wiederholungen durch Dave Graham im Januar 2002 und Chris Sharma im November 2002. Dann hiess es, Dreamtime sei gechippt worden. Nicole selbst ist sich nicht sicher: „Es ist schwer zu sagen, vielleicht haben Leute nur intensiv gebürstet.“ Zangerl und Graham waren dagegen überzeugt, dass gechippt worden war – nur über den Zeitpunkt herrschte Uneinigkeit. Der Tiroler war der Meinung, dass die Griffe schon nach seiner Begehung verändert worden waren, Graham insistierte, es sei erst nach seiner und wahrscheinlich auch nach Sharmas Begehung geschehen. Aber selbst im Originalzustand sei Dreamtime nur 8B+ gewesen, so die Einschätzung des Amerikaners. Er hatte für die brachiale Startsequenz allerdings einen Hook gefunden, den Nicole und Zangerl nicht verwendet hatten. Die Hooklösung wurde Standard, die meisten folgenden Wiederholer schlossen sich der Bewertung 8B+ an.

Im Januar 2005 eröffnete Dave Graham auf der anderen Seite des Blocks The Story of two worlds und proklamierte den Boulder als „erste echte 8C“. Fred Nicole nahm es gelassen. 2008 äusserte er sich in einem Interview: „Grade sind für mich etwas sehr künstliches und subjektives. Es ist undenkbar für mich, hier extrem präzise zu sein. Ist das B, B+ oder C? Gratulation, wenn Leute das können, aber es ist nicht mein Ziel, im Klettern ein Metronom zu sein.“ Dass inzwischen auch 8C-Erstbegehungen von Graham – und ziemlich jedem anderen Topboulderer – abgewertet wurden, spricht für Nicoles Ansicht, dass es beim Bouldern kaum möglich ist, „objektive Schwierigkeiten“ zu bemessen.

Im Herbst 2009 brach ein Stück von der grossen Sloperleiste aus – samt dem bislang für den Dyno zur Lippe benutzten Pinch. Schnell verbreiteten sich Spekulationen, der Boulder könnte nun wieder 8C sein. Im Dezember 2009 schaffte Adam Ondra die erste Begehung nach dem Ausbruch, stufte die Schwierigkeit aber mit 8B+ ein. Seither hat Dreamtime viele weitere Begehungen gesehen, der Grad wird meist mit 8B+/8C gehandelt. Weitere Felsveränderungen oder gar Ausbrüche blieben zum Glück aus. Laut Fred Nicole ist die Schuppe mit der Sloperleiste trotzdem nicht für die Ewigkeit bestimmt.

 Die klang von Anfang an etwas hohl, irgendwann wird sie wohl rauskommen. Wenn das nicht einige Leute ein bisschen geklebt hätten, wäre es wahrscheinlich schon passiert.

Eine Änderung gab es aber doch: Eine neue Methode wurde gefunden. Statt dem weiten Dyno zur Lippe existiert nun eine Variante nach links über Mikroleisten. Jan Hojers Kommentar: „Ich kann mir nicht einmal vorstellen, diese Crimps zu halten!“

Der Traum geht weiter

Weder Abwertung noch Griffausbruch haben die Faszination und Bedeutung von Dreamtime gemindert. Die inzwischen beachtliche Liste der Wiederholer liest sich wie das „Who is who“ des zeitgenössischen Boulderns – ob Christian Core, Daniel Woods, Nalle Hukkataival, Dai Koyamada, Kilian Fischhuber, Paul Robinson oder Jan Hojer, kaum ein klingender Name fehlt. Und ohne Frage war die Erstbegehung von Dreamtime die Initialzündung zu einer Entwicklung, die Bouldern zu einer komplett eigenständigen Disziplin des Kletterns und zum Boomsport machte.

Wie auch Midnight Lightning war Fred Nicoles Erstbegehung aber nicht nur ein Meilenstein des Boulderns allgemein, sondern auch ein Wendepunkt für die Entwicklung im Tessin. Hatten sich die Locals bis dahin gegen die Veröffentlichung eines Führers gesperrt, nahmen sie nun die Arbeit auf, und 2002 publizierte Claudio Cameroni die erste Auflage des Boulderführers Cresciano. Diesem folgten seither drei weitere Auflagen sowie Führer zu Chironico und anderen Gebieten der Südschweiz.

Nicht zuletzt dank dieser allgemein verfügbaren Infos zählt das Tessin heute zu den bekanntesten Boulderdestinationen der Welt, und von Herbst bis Frühjahr zieht es nicht nur die Stärksten auf die Sonnenseite der Alpen, sondern auch tausende Hobbyboulderer. Der Gneis ist noch immer so fein und subtil wie vor 20 Jahren, die Kastanienwälder sind noch immer wunderschön – und das Winterwetter im Tessin ist immer noch deutlich freundlicher als auf der anderen Seite von Gotthard- und Bernardinotunnel. Doch wie in vielen anderen Bouldergebieten hat auch hier der rege Andrang schon zu ernsten Problemen mit Anwohnern und Behörden geführt. Wenn wir uns alle bemühen, gute Gäste zu sein, sollte aber auch in Zukunft jeder Boulderer seine ganz persönliche „Dreamtime“ im Tessin erleben können!

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Video-Link: https://youtu.be/u_j2HjG8Fao